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Schlauer Bauer

■ Schachweltmeister Kasparow gewann die zweite WM-Partie gegen den entnervten Anatoli Karpow

Daß Gewitter in New York schien die beiden Schachmeister zu animieren: Im renovierten Hudson-Theater am Times Square spielten die Erzrivalen beinahe Blitzschach. Nach nur elf Minuten hatten beide zwölf Züge komplettiert. Was nicht nur Laien irritierte: „Das ist sehr ungewöhnlich“, fand der US-Großmeister Seirawan, „fragen Sie mich nicht, warum.“

Ungewöhnlich und von hohem Unterhaltungswert war überhaupt der gesamte Spielverlauf dieser zweiten WM-Partie. Karpow spielte, nicht unüblich, die nach seinem Trainer und Sekundanten benannte Saizew-Variante. Doch Kasparow hatte sich für eben diesen Fall etwas überlegt. Geduldig wartete er, bis Karpow sich in Sicherheit wog, dann, im 19. Zug, ließ er die Katze aus dem Sack: Ein brillianten Bauernzug, in dieser Konstellation nie gespielt, erwischte Karpow eiskalt.

Kasparow stand mit einem stolzen Gesichtsausdruck von seinem gepolsterten Küchenstuhl auf, stolzierte pfauengleich in den Ruheraum und ließ den verdutzten Karpow allein. Kasparow ist kein Pokerface. Er grinste ein bißchen, und seine Schritte schienen zu schweben, während Karpow trotz der schwierigen Lage sein Eismannimage behielt. „Kasparows Figuren harmonieren wunderbar“, schwärmte sogleich Seirawan, „er hat bisher perfekt gespielt.“

Eben das bekam Briefmarkensammler Karpow aufs Unangenehmste zu spüren. Er verschränkte die Beine. Er war deutlich im Nachteil und unter Druck von Kasparows gut entwickelten Figuren, die das Tempo bestimmten und seine Aktionen lähmten. Er schwitzte. Und ließ sich Zeit, die er nicht hatte. Dreieinhalb Minuten blieben dem 39jährigen für die restlichen sechs der in zweieinhalb Stunden geforderten 40 Züge. Dame auf e5, Kasparow setzte seine Dame auf f2, und Karpow hatte fünf Züge zu machen und nur zwei Minuten Zeit dafür.

Er rückte seinen Stuhl ab, zog ihn sofort wieder an den Tisch, sein vorher beinahe meditierender Gesichtsausdruck wurde unruhig, und seine Finger verdeckten den Mund. Seine Backen waren rot. Dreißig Sekunden noch für zwei Züge, und Kasparow hatte noch eine Viertelstunde.

Karpow besiegte schließlich die Schachuhr, aber die Situation war nach dem 44. Zug des Champions hoffnungslos. Der Weltmeister hatte am Ende noch eine Dame, einen Turm, einen Läufer und vier Bauern, und Karpow eine bedrohte Dame, zwei unbrauchbare Pferde und zwei unnütze Bauern.

Überraschend genug, daß Karpow die letzten fünf Züge in dieser Situation überhaupt noch gezogen hat. Wahrscheinlich mußte er sich noch immer von dem Schock erholen. Nach vier Stunden und 58 Minuten stand er auf und gab Kasparow stumm die Hand.

So feierte der 27jährige Titelverteidiger aus der UdSSR ein erstes inneres Oktoberfest. Nach dem Remis vom Montag führt er jetzt mit 1,5:0,5 Punkten. Karpow versucht hingegen, sich abzulenken und das Drama zu vergessen. Doch für seine sechs Sekundanten ist Streß angesagt: wie besessen arbeiten sie an neuen Varianten und Gegenzügen, analysieren und probieren, bis die Köpfe rauchen. dpa/taz

Notation, Kasparow mit Weiß: 1. e4-e5, 2. Sf3-Sc6, 3. Lb5-a6, 4. La4-Sf6, 5. 0-0-Le7, 6. Te1-b5, 7. Lb3-d6, 8. c3-0-0, 9. h3-Lb7, 10. d4-Te8, 11. Sbd2-Lf8, 12. a4-h6, 13. Lc2-exd4, 14. cxd4-Sb4, 15. Lb1-bxa4, 16. Txa4-a5, 17. Ta3-Ta6, 18. Sh2-g6, 19. f3-Dd7, 20. Sc4-Db5, 21. Tc3-Lc8, 22. Le3-Kh7, 23. Dc1-c6, 24. Sg4-Sg8, 25. Lxh6-Lxh6, 26. Sxh6-Sxh6, 27. Sxd6-Db6, 28. Sxe8-Dxd4+, 29. Kh1-Dd8, 30. Td1-Dxe8, 31. Dg5-Ta7, 32. Td8-De6, 33. f4-La6, 34. f5-De7, 35. Dd2-De5, 36. Df2-De7, 37. Dd4-Sg8, 38. e5-Sd5, 39. fg+-fg, 40. Txc6-Dxd8, 41. Dxa7-Sde7, 42. Txa6-Dd1+, 43. Dg1-Dd2, 44. Df1-Schwarz gibt auf.

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