: Schlaue Leichenschau
■ „Nur über ihre Leiche“: Die Professorin Elisabeth Bronfen las im Literaturhaus
Es ist ein seltsames Leichenbegängnis, zu dem sich über 100 geneigte Leserinnen und wenige Leser eingefunden haben. Sie alle fliehen den ersten schönen Sommerabend , um im düsteren Hinterzimmer des Literaturhauses Elisabeth Bronfen, einer Art Reisenden in Sachen Tod, zu lauschen. Nur über ihre Leiche ist der Titel der Habilschrift der Harvard-Absolventin, mit der sie zu einem shooting-star im Literaturbetrieb wurde. Ihr Buch über die schönen, weiblichen Leichen in Kunst und Literatur, machte die Akademikerin zum Medienereignis, kaum eine ernstzunehmende deutsche Zeitung unterließ es, Bronfens Opus, in der deutschen Übersetzung immerhin 600 Seiten dick , zu würdigen.
Wer aber eine erbaulich-genüßliche, schaurig-schöne literarische Leichenfledderei erwartet hatte, wurde enttäuscht. Denn die 35jährige, die soeben ihre erste Professur in Zürich angetreten hat, fordert ihr (Seminar-)Publikum: Kritische Psychoanalyse, name-dropping von Deleuze bis Lacan, eine Relektüre des ödipus-Dramas - das muß schon sein. Bronfens Entdeckungsreise beginnt – wie könnte es anders sein – mit einer weiblichen Leiche: Der von Iokaste, ödipus' Mutter und Gattin, die – wen wundert's – von Herrn Freud bei der Erklärung von ödipuskomplex und Kastrationsangst geflissentlich übersehen wurde. Und endet nach einer guten Stunde mit den Frauenleichen aus Hitchcock's Kult-Werk Psycho. In der Zwischenzeit aber hat diese Frau nichts geringeres als den Versuch unternommen, Freud auf die Füße zu stellen und die phallische Ordnung durch die omphallische, die auf den Nabel zentrierte, zu ersetzen. Denn einen Nabel, so Bronfen, haben wir alle, er ist das Zeichen unserer Sterblichkeit. Und der Nabel als Kultobjekt repräsentiert – oh, glückliches Zusammenspiel! – zugleich die apollinisch-männliche Kultur und den untergegangenen weiblichen Gaia-Kult. Wie das gehen soll, so mal eben den Phallus in dieser Welt durch den Omphalos zu ersetzen, sinniert die Besucherin, zurückgeworfen in die inzwischen abgekühlte Sommer-nacht, auf dem Heimweg. dur
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