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Schlacht der vollen Kehlen

250 schmetternde Chöre und mehr: Anläßlich der Festwochen holt Wien frühere Unterlassungssünden in Sachen Franz Schubert nach  ■ Von Frieder Reininghaus

Wien döst. Die Stadt schlurft am sonnigen Mai-Montag so vor sich hin. Oder hinter sich her. Die meisten Museen halten sich geschlossen. Doch Schubert läßt sich einholen. Man kann von ihm eingeholt werden: Neben der ins repräsentative Licht gerückten, an den Nachtschwärmer erinnernden, in Textfluten ertrinkenden, von Ernst Hilmar gutgemeinten Ausstellung „Schubert '97 – Aus Heliopolis – Nachviolen – Wasserfluth“ (im Historischen Museum bei der Karlskirche, noch bis 31. August) bietet der Musikverein im Konzerthaus Raritäten aus den eigenen Archiven: Schubert und Brahms.

Zu sehen ist, wie wichtig letzterer als Sammler und Herausgeber wurde. Beispielsweise rettet er für die Nachwelt ein Doppelblatt, auf dessen Vorderseite Ludwig van Beethoven das unsterbliche Lied „Ich liebe dich“ notierte, dessen Rückseite der junge Franz Schubert für den Entwurf des langsamen Satzes seiner Klaviersonate Es-Dur (D 568) und für Unterrichtszwecke benutzte – er erläuterte auf den letzten freien Notenlinien einem Anfänger Violin- und Baßschlüssel. Die Kenner werden entdecken, daß Schubert hinsichtlich des Tempos des noch in d-Moll (später in g-Moll) notierten Sonatensatzes unentschlossen war, Andante durch Andantino ersetzte.

Die Wiener Gesellschaft der Musikfreunde ist ein pietätvolles Unternehmen, und das zeigt sie. Bis hin zu den Abrechnungen für die Begräbnisfeiern, die sie ihren Mitgliedern Brahms und Schubert finanzierte (Ausstellung im Konzerthaus bis 16. Mai).

Im wunderschönen Monat Mai erlebte die Donau-Metropole eine Invasion: 250 in- und ausländische Chöre suchten die Innenstadt an einem einzigen Wochenende heim – begütigten und schmetterten aus vollen Kehlen: vor allem Schubert. Franz Schubert, des 200.Geburtstages wegen, der noch immer gefeiert wird – die konzertierten, grenzüberschreitenden Aktionen im Januar scheinen nicht ausgereicht zu haben, um diesen Trumpf „mitteleuropäischer Kultur“ auszureizen.

„Hier im Freien ist mir leicht und gut“

Die Huldigung „An die Musik“ erhob sich auf dem Rathausplatz nächst dem Burgtheater zu vorgerückter Stunde mit dem Schönberg-Chor, dem ORF-Orchester unter Leitung von Dennis Russell Davies: eine ins Gigantische gesteigerte „Schubertiade“ vor mehr als 60.000 Ohren. Ums Tausendfache zu groß geraten.

Ein Werk des Geburtstagskindes stand selbstverständlich auch auf dem Programm der Festwochen-Eröffnung im Theater an der Wien: die erst drei Jahrzehnte nach der Entstehung durch Franz Liszt in Weimar uraufgeführte dreiaktige Romantische Oper „Alfonso und Estrella“, die im Wettlauf mit Webers „Freischütz“ vom 24jährigen Schubert und dessen Freund Franz von Schober geschrieben worden war und nun unter der musikalischen Obhut von Nikolaus Harnoncourt zum zweitenmal in originaler Gestalt vorgestellt wird. „Hier im Freien ist mir leicht und gut“, singt der junge Held Alfonso. Das könnte als Motto über Schuberts Biographie stehen, die ja auf andere Weise freier geriet, als der junge Franz S. es sich wünschte.

Alfonso stammt aus der Geschichte des spanischen Mittelalters und der Zeit der Kämpfe gegen die Sarazenen. Sein Vater wurde vom bösen Onkel vom Thron Leóns vertrieben und lebt mit ihm recht glücklich und zufrieden im Exil. Alfonso ist tatendurstig, will León zurückerobern, aber der Vater bremst ihn. So fängt er, Wache schiebend am Bergesrand, erst einmal die beim Jagen sich verirrende Estrella ein, die Tochter des Thronräubers. Und dann schlägt die Schlacht zu. Die traumatischen Ereignisse der Schubertschen Jugend waren ja die Kriege, die Eroberungen Wiens durch französische Truppen und dann, auch subjektiv als Befreiung empfunden, die antinapoleonischen Feldzüge von 1813/14.

Diese Ära und ihr Pathos, selbst ihre Donnerschläge – deftig ins Theater geprotzt unter Harnoncourts Händen – tönen fort in der „Alfonso“-Musik. Erich Wonder erinnerte mit seinem ersten (und gelungensten) Bild an die Armut spanischer Bauern und die Anmut der Bäuerinnen von einst. Dann holen zunehmend die „lokalen Konflikte“ des 20.Jahrhunderts die Ausstattung und die Inszenierung von Jürgen Flimm ein: Schützengräben und Sandsack-Unterstände, Flinten und Uniformen, zerschossenes Geschütz, Militärlastwagen und Panzer. Eine radikalere, modernere Brechung des unsäglich gereimten Stücks (wie sie Ruth Berghaus in Wien „Fierabras“ zumutete) hätte auch dem Unternehmen Estrella gutgetan.

Schubert gibt's nun im totalen Abverkauf: täglich vom Wiener Konzertduo im Deutschordenshaus, dreimal wöchentlich vom Wiener Konzertquintett und vom Wiener Salonorchester der Volksoper, vom Alban-Berg-Quartett auf Talfahrt und vom Kammer- Ensemble Lichtental, von den Wiener Philharmonikern etc. Die betäubende Menge soll die früheren Unterlassungssünden der Wiener kaschieren: Ein Fortschrittlicher hat hier nicht nur tot zu sein, um zu Ehren zu gelangen, sondern muß bereits in Verwesung übergegangen sein.

Informationen zu den Wiener Festwochen unter Telefon: 0043-1-589 22 335 oder Fax: 0043-1-589 22 49

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