: Schimpworttiraden aus Leningrad
In Moskau haben sie Auftrittsverbot – anderswo spielen sie vor Tausenden von Fans. Am Mittwochabend sind die skandalumwitterten russischen Underground-Heroen „Leningrad“ zu Gast auf der Datscha-Party in der Fabrik
„Lenin-grad – Dieses Lied singt die Jugend! Die verarscht du nicht!“, singt Sergey Shnurov aka Shnur von „Leningrad“. Das mittlerweile 15 Köpfe zählende Orchester aus St. Petersburg ist ein Phänomen, spektakulär ist schon das Line-Up. Zur imposanten Bläser-Sektion – Posaune, Saxophon, Trompete und Tuba – kommen Xylophon, Gitarren, Schlagzeug und Percussion. Stilistisch wird eine eigenwillige Mischung aus Ska, kubanischem Salsa und russischen Knast-Chansons geboten. Neuerdings gesellen sich auch Rap-Einflüsse und harte Rock-Gitarren dazu.
Einst waren die Russen der Geheimtipp der Intellektuellen, heute gelten sie als erfolgreichste Band des postsowjetischen Landes – und das, ohne auch nur ein bisschen ihrer, nun ja, Kredibilität einzubüßen. Denn „Leningrad“ sprechen die Sprache des Volkes: lustig-derb, direkt und kritisch. In ihren Texten geht es um den „einfachen russischen Menschen“ und der interessiert sich vor allem für Alkohol und Sex – das Herz natürlich immer am rechten Fleck.
Das erklärte Ziel der Ska-Punks ist es, mit geringsten Mitteln starke Emotionen hervorzurufen. Sie verstoßen gegen jegliche Verbote, brechen mit Traditionen, drehen skandalöse Videos und verbreiten auf ihren Konzerten leidenschaftlich Chaos. Vor allen Dingen aber fluchen sie in der Öffentlichkeit. Denn die Texte, die Frontmann Shnur – der „russische Eminem“ – mit rauer Stimme und voller Herzblut ins Mikro grölt, sind pures russisches „Mat“. Dieses auf Schimpfwörtern aufbauende tabuisierte Sprachsystem nutzten schon die Underground-Dissidenten zu Sowjetzeiten, um Botschaften so zu chiffrieren, dass sie äußerst derb, aber niemals dumm wirken. Aus diesem Grund sind „Leningrad“ beim einfachen Volk ebenso beliebt wie bei der Intelligenzija.
Moskaus Bürgermeister Luschkow wusste sich angesichts so viel anarchischer Energie übrigens nicht anders zu helfen, als Auftrittsverbot in der Hauptstadt zu erteilen. Anderswo indes füllen „Leningrad“ mittlerweile Stadien. Am Mittwoch werden sie sicher auch in der Fabrik vor ausverkauftem Haus spielen. Noch gibt es aber Karten.
ROBERT MATTHIES