: Scheuer Flirt auf fernen Gleisen
■ Eine Reise, egal wohin: In Express, Express zeigt der Entdecker Igor Sterk eine Liebe auf den ersten Blick bei einer sehr langsamen Fahrt durch Slowenien
Ein junger Mann in einem stoisch klappernden Dampfzug aus längst vergangenen Zeiten. Der Schaffner betritt das Abteil: „Ticket!“ – „Hab keins!“ – Er zieht seinen Block: „Wohin?“ – „Vorwärts!“. Gerade noch saß dieser junge Mann daheim und nähte sich eine Hose. Seine Reisehose. Dann besteigt er den Zug. Wohin ist ihm egal. Vorwärts halt. In ein neues Leben.
Das neue Leben betritt wenig später sein Abteil: Eine junge Frau, offensichtlich auch auf längerer Reise. Denn wie selbstverständlich richtet sie sich häuslich ein: Sie schleppt wortlos eine kleine Nachtkommode an, spannt eine Wäscheleine durch das Abteil und hängt ihre Socken auf. Es ist die Liebe auf den ersten Blick. Und überhaupt besteht Igor Sterks Roadmovie Express, Express mehr aus Blicken als aus Worten. Hart am Stummfilm sagt hier ein Lächeln, ein schüchterner Augenaufschlag mehr als tausend Worte. Er stöbert in ihren Sachen. Sie bemerkt es. „Möchtest Du einen Saft?“, fragt er. Sie lächelt. Und alles ist verziehen.
Dann sind da noch all die skurrilen Figuren, die die Züge bevölkern und denen die beiden Liebenden immer wieder begegnen. Auch sie lächeln meist. Der bärbeißige Schaffner, der ihm an jedem Bahnhof, an dem sie nicht aussteigt, eine weitere Fahrkarte ausstellen muss. Der Mann, den „ein paar Verrückte“ auf die Gleise gefesselt haben. Der Ballon-Verkäufer, zwei Taubstumme und der Vogelhändler, genau wie all die Bahnbeamten, die mangels Zugverkehr ihren ganzen Elan dem Tischfußball widmen. Ein Haufen Sympathieträger, versammelt in einem Waggon.
Der Zug hält und sie steigt aus. Und er hat nicht den Mut, ihr zu folgen. Der Zug fährt weiter. So scheu ihre erste Begegnung auch war, so hoffnungslos verloren sind die beiden Protagonisten. Schnell begreift er, dass sein Ziel keinen Sinn mehr macht. Er zieht die Notbremse, doch sein Rückweg zu ihr endet auf dem Bahnhof. Der nächste Zug fährt morgen. Jetzt sitzt er dort und spuckt Herzen in den Staub. Begreift sein Glück und tanzt wie ein Knabe über die Gleise. Die Kamera dreht sich um ihn, es ertönt eine Vivaldi-Polka.
Musik, Geräusche und die innere Ruhe der Bilder ersetzen dann auch die Gespräche in Express, Express. Wo sich Julie Delphy und Ethan Hawke in Before Sunrise im Zug aus ihren Leben erzählen, nähern sich die beiden namenlosen Liebenden in kleinen Gesten an. Langsam entdecken sie sich und es macht ein wenig glücklich, ihnen dabei zuzusehen. In Sepia-Tönen hat Regisseur Sterk die Bilder umgesetzt. Wie leicht verblichene Fotos mit einem Hauch Gold wirken seine beschaulichen Szenerien in Slowenien, gedreht auf entlegenen Gleisen, um jeglichen Kontakt zu modernen, hektischen Zeiten auszuschließen.
Das langsame Reisen und Entdecken scheint auch Igor Sterk zu schätzen: mit dem Zug reiste er durch Indien und Afrika, für zehn Monate segelte er in der Karibik und vor Südostasien. Um dann mit seinem Erstling Express, Express einen ganz langsamem Film abzuliefern. Es bleiben 74 Minuten wunderbare Ruhe, die viel zu früh enden. Ein ganz einfacher Film über die große, wahre Liebe. Der einfach nicht im ICE spielen könnte. Volker Peschel
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