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Scheibengericht

MONTAG, 12/9/8815 oJOHANNES BRAHMS

Ein Deutsches Requiem op 45. Barbara Bonney, Sopran; Andreas Schmidt, Bariton; Rudolf Scholz, Orgel. Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker, Carlo Maria Giulini. Deutsche Grammophon CD 423 574-2

Die Arbeit am „Deutschen Requiem“ zog sich zwölf Jahre hin, bis Brahms es 1868 fertigstellen konnte. Das „Deutsche“ des Requiems bezieht sich auf die protestantische Tradition seit Schützens „Musikalischen Exequien“, über eine Zusammenstellung von Bibeltexten eine formale Gliederung zu schaffen und sich nicht an die Texte der lateinischen Totenmesse zu binden. Aber Brahms schrieb auch: „Was den Text betrifft, will ich doch bekennen, daß ich recht gern auch das 'Deutsch‘ fortließe und einfach den 'Menschen‘ setzte.“ Deutsch oder Mensch -Brahms mißt in diesem Trostwerk mit großer Sicherheit die Spanne zwischen Todesverzweiflung und gleichmütiger Einsicht ab. Besonders der zweite Satz („Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“) greift mächtig ins Gemüt mit Paukenschlägen und unerschütterlich die Vergänglichkeit beschreibendem Choralgesang. Dafür, daß es sich hierbei um einen Konzertmitschnitt handelt, gibt die Aufnahme ein effektvoll ausgefeiltes Musizieren wieder, hochkonzentriert und schlüssig. oMARTIN FISCHER

Warum sollte ich wohl? Ein elektroakustisches Manifest gegen die Phallokratie/MARTIN SCHWARZENLANDER: Nicht ein Wassertropfen fehlt dem Meer. Das Unrecht in meinem Bad. arcana 90287

Martin Fischer und Martin Schwarzenlander sind ein und dieselbe Person. Die eine Plattenseite realisierte er noch als Schwarzenlander, die zweite nach seiner Namensänderung durch Heirat mit der Autorin Erica Fischer. Ein Frauenschicksal. Für sein Manifest gegen die Phallokratie hat der Wiener Komponist Zitate gesammelt u.a. aus der taz, vom NS-Goebbels, von Toni Schumacher, Bertolt Brecht, Peter Handke und Arthur Schopenhauer, aber auch Werbetexte des AKW Belleville und statistische Informationen des Österreichischen Frauenberichts 1985 wie des Weltberichts „Frauen“ (New Internationalist), denen elektroakustische Patterns unterlegt sind. Die Aufeinanderfolge der Zitate wirkt ebenso beliebig wie ihr Bezug zur mehr oder weniger agitierenden Klangfolie. Ähnlich verfährt er in den beiden anderen Hörstücken, in denen Hunger, Schmerz, Tod und Trauer, Gewalt, Liebe und anderes Unrecht zur Sprache kommen. Schwarzenlander/Fischer teilt uns mit moralischem Engagement mit, was wir wissen. Und er meint es sehr ernst mit uns. oLE MYSTERE DES VOIX BULGARES

„A Cathedral Concert“. JARO/EfA 09-4138

Das ist keine Kopie einer der beiden Cellier-Platten gleichen Titels, sondern der Live-Mitschnitt eines Konzertes in der Bremer Kirche „Unser Lieben Frauen“ mit viel Applaus, damit der Eindruck, den diese klaren und spannungsreichen Gesänge machen, nicht zu tief geht. Nur wenige Titel des Programms sind schon von anderen Platten bekannt: das anrührende Liebeslied „Polegnala e Todora“ heißt eben jetzt „Todora's Dream“. Der betörende Frauenchor des bulgarischen Rundfunks und Fernsehens ist gerade auf Europatournee mit den bundesdeutschen Stationen und spielt noch in Stuttgart (15.9.) und München (16.9.). oPAUL HINDEMITH

Das Nusch-Nuschi. Ein Spiel für burmanische Marionetten in einem Akt. Harald Stamm, Baß; Marten Schumacher, Sprechrolle; Victor von Halem, Baß; u.v.a. Radio Symphonie -Orchester Berlin, Gerd Albrecht. Wergo CD WER 60146-50

„Die Aufführung bedeutete eine Entweihung unserer Kunststätte. Der Inhalt ist von nicht mehr zu beschreibender Gemeinheit. Alles, was uns heilig ist, wird hier von nicht deutschem Geist in den Schlamm gezogen“, hieß es in der Münchener Abendzeitung nach der Uraufführung 1921. Die Gemeinheit macht die Kurzoper spannend, der Schlamm ist vermutlich die farbigste Unterhaltungsmusik, die Hindemith je geschrieben hat. Das „Nusch-Nuschi“ ist der burleske Mittelteil eines Operntriptychons und steht zwischen „Mörder, Hoffnung der Frauen“ und „Sancta Susanna“. Es handelt vom sexuellen Vergnügen des schönen Zatwai (stumme Rolle) mit vier Frauen des Kaisers von Burma (also weit weg) und einem alten General, der dafür - durch eine Finte seines Dieners - die obligatorische Kastrationsstrafe erleiden soll, was sich aber als unnötig erweist, weil er bereits kastriert ist. Das frivole Sujet hat Hindemith mit Parodien der modernen Musik der Jahrhundertwende vertont, wobei er seine eigene Musik nicht ausnahm. Er zitiert aus Wagners „Tristan“ und Richard Strauß‘ „Till Eulenspiegel“, kombiniert ein Stilzitat aus Mahlers „Lied von der Erde“ mit Affenkreischen und macht sich mit einer Choralfuge über die neobarocke Mode lustig. Das kleingliedrig -abwechslungsreiche, virtuose, einstündige Werk ist sorgfältig und effektvoll eingespielt, das Grobe mit dem Feinen in den komischen Zusammenhang gebracht. oLUDWIG VAN BEETHOVEN

Symphonie Nr. 3 Es-Dur op 55 „Eroica“ Orchestra of the 18th Century, Frans Brüggen. Philips 422 052-1

Auch von vielgespielten Werken gibt es offenbar Interpretationen, mit denen es gelingt, die Barrieren der Aufführungstradition, beziehungsweise der schlechten Gewohnheiten, zu überspringen. Brüggens „Eroica“ ist eine beeindruckende Leistung. Die Sinfonie ist mit reduzierter Besetzung und Originalinstrumenten aufgenommen. Die Instrumentalstimmen wirken dadurch schlanker, das Klangbild differenzierter als bei Aufnahmen mit einem großen Orchester aus der Zeit nach Beethoven. In dieser Version gibt es keine weißen Flecken: Jede Note erklingt mit ihrem musikalischen Kontext, jede Phrase scheint neu durchdacht und auf eine ungewohnte Berechtigung hin nacherfunden. Die Genauigkeit, mit der da jede Geste geformt wird, löscht die Taktstriche aus dem Hörbild (besonders auffällig im vertrackten Trauermarsch). So hat diese Musik eine stetige Unmittelbarkeit, die einen daran hindert, sich mit „Kenn ich schon“ abzuwenden. Ich will nicht ins Schwärmen kommen. oSOVIET FRANCE

Shouting at the Ground, Music from the spheres of influence. Red Rhino Records, REDLP 91

Die Klangbastler aus Newcastle haben in den letzten Jahren einen periodischen Industrieklang in oft sanfte, lyrische Stimmungsbilder verwandelt. Ihre Platten verschickten sie in Jutesäcken oder in bunt bemaltem Schmirgelpapier, denen sie zuweilen kleine Geschenke, wie z.B. handgefertigte Keramikdosen beigaben. „Shouting at the Ground“ aber ist ein gewöhnliches Doppelalbum, mit dem die Briten an der Weltmusik teilnehmen. Denn sie haben fernöstliche Geigen-, Flöten- und andere Instrumentalstimmen zu einer Reihe von Verlaufsmustern verstrickt und manchmal mit industriellen Patterns vermischt. Das ergibt oft interessante Klänge, aber die werden nicht kompositorisch genutzt, sondern bleiben auf der Stufe der Materialausgabe. oLUIS DI MATTEO

Por Dentro de mi. JARO/EfA 09-4137.

Luis de Matteo spielt Bandoneon solo. Bei aller kompositorischen Schlüssigkeit haben die Stücke einen improvisatorischen Charakter: Man kann hören, wie ein Einfall dem vorhergehenden entspringt. Die musikalischen Verläufe folgen seinem Gefühl, sind aber nie gefühlig. Wer Tango-Ekstasen erwartet, wird nicht bedient. Selbst da, wo er Liedformen gebraucht, wie im Titelstück „Por dentro mi“ (In meinem Inneren), ist der Ausdruck zurückgenommen, lakonisch kühl. So lenkt er die Aufmerksamkeit auf das musikalische Geschehen, statt uns mit Inbrunst zu überfahren. Dabei sind die Stücke sehr unterschiedlich. Es gibt erzählende Passagen, in denen Verkürzungen und plötzliche Sprünge das konventionelle Gefüge verrücken. Und es gibt das disziplinierte Abdriften in eine nichttonale Sprödheit, das nicht einer Laune entspringt, sondern als ein logisches Fortschreiten unmittelbar begreifbar ist. oCASPAR BRÖTZMANN MASSAKER

The Tribe. Zensor CM 08/Efa 08-05751

Was du ererbt von deinen Vätern: Caspar Brötzmann hat sich das Klangbild von Jimi Hendrix erworben und es den Strukturvorstellungen der 80er Jahre unterworfen. Da gibt es keine Bluesvariante mehr, aber auch nicht das pure Gitarrengewitter. In zwei Stücken der Platte (Massaker und Bonkers Dance) greift Brötzmann zur melodiösen Verarbeitung des ästhetischen Aufruhrs, sonst verlaufen seine expressiven Attacken in einfachen figurativen Sequenzen. Das schafft formale Klarheit, die von „Massaker“ (Eduardo Delgado Lopez, b, voc und Jon, dr) zweckdienlich unterstützt wird. Ein Anfang. Aber ein starker Anfang. oCARL PHILIPP EMANUEL BACH

Sechs Sinfonien für Streicher, WQ 182, Hamburg 1773. Kammerorchester „Carl Philipp Emanuel Bach“, Hartmut Haenchen Capriccio C 27 145

Dieser windfrische Gestus, diese stürmische Virtuosität das kann nur nach 1789 entstanden sein. So dachte ich, als ich eine der Streichersinfonien (C-Dur/H659) zum ersten Mal hörte. Knapp daneben. Carl Philipp Emanuel Bach, der zweite Sohn Johann Sebastians, starb ein Jahr vor der Revolution; die sechs Sinfonien schrieb er schon 1773 im Auftrag des Barons von Swieten. Der frühe Sturm und Drang, den man allerdings schon beim Vater finden kann (etwa im Capriccio der 5.Suite BWV 1070), gewinnt beim Hamburger Bach eine neue Qualität: die Expressivität ist durch eine knappe und strenge Form verschärft. Es gibt „moderne“ abrupte Abbrüche, überraschende lange Pausen und gewagte, zielsicher disponierte, harmonische Verwerfungen. Das Kammerensemble aus Berlin (DDR) musiziert mit dem gehörigen Nachdruck, ohne in Versuchung zu kommen, interpretatorisch vom Leder zu ziehen. oHELMUT LACHENMANN

Gran Torso/Salut für Caudwell. Berner Streichquartett/Wilhelm Bruck, Theodor Ross, Gitarren. col legno 5504, im Vertrieb des IMS.

„Diese Edition wurde in einer limitierten Auflage hergestellt. Das vorliegende Album trägt die Nummer 170 und wurde vom Komponisten handsigniert.“ Ohne diese Voraussetzung wäre mir der Zugang zu Lachenmanns Musik auch verschlossen geblieben. Das ist ja nicht gerade Dancefloor, was man da zu hören bekommt. Da wird einem nichts geschenkt. Aber wer die Hör -Arbeit leistet, hat gewonnen. „Hören ist wehrlos ohne Denken“, sagt Lachenmann, „Hören ist wehrlos auch ohne Fühlen, und Hören ist wehrlos - ohne Hören.“ Im Streichquartett „Gran Torso“ (1971) wird die Gestalt der Musik mit jedem Einsatz der Werk-Zeuge verändert, aus der Klangerzeugung selber leiten sich die Strukturen und Formen her. Das, was letztlich übrigbleibt, hat seine Bedeutung nur durch diesen Entwicklungsprozeß. Das klingt jetzt banal, weil sich das, was man beim Hören erfährt, der Beschreibung entzieht. Dieses Dilemma dürfte aber - ganz im Sinne des Komponisten - zu Recht auftreten, weil das sprachlich Vermittelbare sich ja nur auf die Bekanntheit des Gegenstands, also auf Konvention stützen kann. Und gegen diese Geborgenheitsästhetik hat er von Anfang an ankomponiert, in der Musik für zwei Gitarristen „Salut für Caudwell“ (1977) ist seine politisch-moralische, also auch handwerkliche Maxime mit Texten von Caudwell und Nietzsche thematisiert. Das klingt trotz manch Unvertrautem ganz sinnfällig und ist von einer strukturellen Klarheit, die dem hohen Anspruch Lachenmanns entspricht. oOFRA HARNOY / VIVALDI

Concertos for Cello/Concerto for Cello and Bassoon. James McKay, Bassoon; Toronto Chamber Orchestra, Paul Robinson. RCA Victor RL87774

Daß der Name Ofra Harnoy zuoberst und am größten auf dem Cover prangt und die attraktive Cellistin darunter in theatralischer Arbeitspose abgebildet ist, spricht noch nicht gegen die Musik. Man sieht die Absicht und ist amüsiert. Das musikalische Konzept aber entspricht dem optischen. Nicht etwa, daß die Frau so schräg spielen würde wie sie im Foto sitzt; vielmehr ist offenbar die Gesamtgestaltung der Konzerte (für Kenner: c-Moll RV 401, mit Fagott e-Moll RV 409, der Konzertsatz d-Moll RV 538, und als World-premiere recording d-Moll RV 405, B-Dur RV 423 und C-Dur RV 399) so sehr auf das solistische Spiel ausgerichtet, daß der Anteil des Kammerorchesters wie ein gewissenhaftes Beiwerk wirkt. Er ist auf spannungslos-blasse Einrahmung reduziert, und die überdehnten Tempi haben nur den einen Sinn, dem Klangprofil des Cellos nachzugeben. Die 1964 in Israel geborene Ofra Harnoy, die als Zehnjährige ihr Solodebüt in einem Orchesterstück gab, pflegt diesen Klang. Der aber ist uninteressant, wenn er nicht das konzertante Geschehen agitiert.

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