Schauspieler Jürgen Vogel: "Wer bin ich denn? Bin ich Gott?"
In dem Film "Schwerkraft" spielt Jürgen Vogel einen Kleinkriminellen. Bei uns redet der Schauspieler über Zigaretten, seine proletarische Herkunft, gute und schlechte Interviews.
taz: Herr Vogel, ich bin etwas ratlos. Zur Vorbereitung habe ich jede Menge über Sie gelesen.
Jürgen Vogel: Sie Armer!
Gibt Schlimmeres.
Ich meine das ernst. Ich würde nicht lesen wollen, was ich schon alles für einen Mist verzapft habe.
Die Frage, die ich mir nach der Lektüre stelle, und auch die wurde Ihnen schon gestellt, ist: Was haben Sie in Interviews eigentlich noch nicht erzählt?
Ja, das frage ich mich auch manchmal. Wirklich. Ich gehe ja nach jedem Interview aufs Klo, und da stehe ich dann und sage zur mir selbst: Ich hasse mich, oh, ich hasse mich. Was habe ich denn da wieder gesagt? Ich gebe ja mit jeder Antwort vor, etwas zu wissen. Jemand anderes könnte die Frage allerdings auch beantworten - und würde ganz andere Sachen sagen. Das ist meine Realität, meine Prägung, meine Wahrheit. Die kenne ich aber schon, trage sie ja in mir. Was ich sage, ist schon Vergangenheit, weil es schon gefühlt und gedacht ist. Deswegen langweilt es mich, ich hätte gerne eine andere Wahrheit. Ich würde gern das erzählen, was jemand anderes sagen würde, weil ich gern mal etwas anderes denken würde, mal aus meiner Haut rausmöchte. Beim Spielen geht das zum Glück.
Behelfen Sie sich manchmal mit Lügen, um ein bisschen Abwechslung reinzubringen?
Ja, das mache ich schon gelegentlich, ist aber auch langweilig. Denn der Interviewer hat ja das Recht auf eine halbwegs aufrichtige Antwort, sonst könnten wir das hier auch gleich lassen. Nur weil mir die Frage in dem Moment vielleicht nicht passt, darf ich ihm ja keine Märchen erzählen. Wer bin ich denn? Bin ich Gott?
Der Mann: Geboren am 29. April 1968 in Hamburg als Sohn eines Kellners und einer Hausfrau, Kindermodemodel, Mittlere Reife, Schauspielschule (ein Tag), 1985 Umzug nach Berlin, WG mit Richy Müller
Seine Filme (Auswahl): "Kinder aus Stein" (1986), "Schuld war nur der Bossa Nova", "Kleine Haie" (1992), "Das Leben ist eine Baustelle" (1997), "Scherbentanz" (2002), "Keine Lieder über Liebe" (2005), "Emmas Glück", "Duell in der Nacht" (2008), "Boxhagener Platz" (2010)
Auszeichnungen (Auswahl): zwei Grimme-Preise, Bayerischer Filmpreis, Goldene Kamera, Silberner Bär der Berlinale 2006 für "Der freie Wille" (Hauptdarsteller, Koautor, Koproduzent)
Aktuell im Kino: Maximilian Erlenweins mit dem Max-Ophüls-Preis 2010 ausgezeichneter Debütfilm "Schwerkraft", in dem Vogel den Kleinkriminellen Vince Holland spielt, der mit einem befreundeten Bankangestellten (Fabian Hinrichs) Einbrüche verübt - zunächst aus Spaß …
Welche Frage können Sie nicht mir hören?
Wenn du zum Beispiel ein Interview für ein EPK machst …
… eine elektronische Pressemappe …
… ist die Gefahr groß, dass jemand dich bittet, in zwei Sätzen zu erzählen, wen du spielst, und in drei Sätzen, worum es in dem Film geht. Das hasst man dann wie die Pest. Deswegen weigere ich mich auch meistens, diese Fragen zu beantworten.
Warum genau?
Weil man in drei Sätzen zwei Stunden Film nicht erklären kann. Wenn man es könnte, hätten wir etwas falsch gemacht.
Aber die Weigerung birgt doch auch die Gefahr, dass man als prätentiös gilt, als schwierig.
Deswegen sage ich ja auch immer: Ich kann das gar nicht. Damit gebe ich den Leuten das Gefühl: Der ist ein bisschen doof, und dann kriegen sie Mitleid mit mir und versuchen, die Frage ein bisschen anders zu formulieren. Und ich versuche, mich dann da durchzumogeln.
Warum befragen Journalisten Sie so gern? Was erwarten wir von Ihnen?
Vielleicht erhoffen sich viele wegen meiner proletarischen Herkunft und der Tatsache, dass ich Autodidakt bin, eine Einfachheit und Klarheit in meinen Antworten, die vom vergeistigten Schauspielerklischee abweicht. Mit das beste Interview, das ich je gegeben habe, war übrigens eins mit der Zeit zu "Der freie Wille". Ich fand es sehr erleichternd, dass der Autor …
… der Theaterkritiker Peter Kümmel …
… sich selbst Gedanken gemacht hat und Dinge über mich geschrieben hat, über die ich mir selbst nicht so im Klaren war und erst geworden bin, indem ich den Text gelesen habe. Das fand ich irgendwie geil. Ich bin ja nicht nur, was ich sage. Das ist nur ein kleiner Teil, der wesentlich größere steckt in meiner Arbeit. Wer wirklich etwas über mich erfahren will, sollte sich meine Filme angucken, weil ich da am allerehrlichsten bin. Dagegen, meine Figuren im Gespräch zu analysieren, gibt es eine Urweigerung in mir. Weil es nicht mein Haupttalent ist und so etwas Klugscheißerisches, Anmaßendes hat. Stellen Sie sich vor, jemand fragt Sie, worauf es im Journalismus ankommt. Und Sie erzählen ihm alles, wovon Sie glauben, dass es wichtig ist. Ich schwöre Ihnen: Danach mögen Sie sich erst mal nicht. Und ich glaube, dass das gut so ist. tschuldigung …
Vogel steht auf, geht zum Papierkorb, fischt eine fast volle Zigarettenschachtel heraus, steckt sich eine an und wirft die Schachtel zurück.
Warum schmeißen Sie eine fast volle Zigarettenschachtel weg?
Weil ich eigentlich nicht mehr rauche, nur manchmal. Das war jetzt die letzte.
Für wie lange?
Hoffentlich überhaupt die letzte.
Wie oft Sind Sie in den letzten Stunden an den Papierkorb gegangen?
Zweimal.
Machen Sie das immer so?
Nee, heute hatte ich den spontanen Impuls, die Kippen wegzuschmeißen, weil es mich angeekelt hat - und jetzt hole ich sie wieder raus: gutes Zeichen, gutes Zeichen.
Gibt es Themen, über die Sie gern häufiger reden würden?
Nein, denn ein wirkliches Interesse, über das zu reden, was ich tue, habe ich ja wie gesagt nicht. Alles, was ich sagen könnte, trifft es nicht wirklich. Man kann eben Emotionen und das, was man wirklich denkt, schwer in Worte fassen. Ich kann Grundsätzliches sagen über Figuren, warum es mir wichtig ist, jede mit Würde zu spielen, weil jede Figur diese Würde verdient hat, egal was sie getan hat oder tut. Das entspringt meiner Sympathie für den normalen Menschen, für den Menschen, der Fehler macht, weil das zum Menschsein dazugehört. Es ist mir extrem wichtig, eine Haltung zu meinen Figuren zu haben, eine Liebe und Nähe und eben keine Distanz, um mich zu schützen.
An Schauspielschulen wird das Gegenteil gelehrt.
Deswegen habe ich ja auch nur einen Tag eine besucht. Es ist meine feste Überzeugung, dass ich meine Figuren nur distanzlos spielen kann, mich da reinwerfen muss. Jede Figur muss durch mich durch irgendwie. Nur dann ist es ehrlich, bekommt es Tiefe. Insofern bin ich ein Selbstdarsteller und lege auch viel Wert darauf, ein Selbstdarsteller zu sein. Die Rolle ist für mich ein Anzug, den ich trage und in dem ich dann wirklich das empfinde und durchlebe, was die Figur empfindet und durchlebt. Aus einer Geschichte, die sich irgendjemand ausgedacht hat, lebendige Figuren zu machen, mit denen du zitterst und dich freust, das geht nur ohne Abstandshalter, zumindest für mich. Ich bin mir da meiner eigenen Begrenzungen auch durchaus bewusst. Meine Physiognomie und meine Art der Darstellung passen eben nur zu bestimmten Charakteren, und zwar zu solchen, die eine ähnliche Herkunft haben wie ich.
Sie stammen aus kleinen Verhältnissen und sind mit 15 Jahren von zu Hause abgehauen.
Meine proletarischen Wurzeln haben mir geholfen, eine Art von Schauspiel mitzukreieren, die es, als ich als Teenager angefangen habe zu drehen, in Deutschland noch kaum gab, mal abgesehen vielleicht von der "Das Boot"-Besatzung und Richy Müller mit "Die große Flatter".
Sind Sie stolz darauf?
Ja, schon. Bis dahin waren Malocherfiguren im deutschen Film und Fernsehen unerträglich klischeehaft.
Wenn Sie sich Figuren wie den Vergewaltiger Theo Stör in "Der freie Wille" "anziehen": Ist das manchmal eine Qual für Sie?
Nee, die einzige Qual ist es manchmal zu akzeptieren, dass man dieses Talent hat und sich damit in dieser Welt bewegen muss - das ganze Drumherum, die roten Teppiche, diese seltsame Branche. Aber das hat ja alles nichts mit dem eigentlichen Arbeitsprozess zu tun, und der ist keine Qual, sondern eine Befreiung für mich.
Auch bei einer Figur wie in "Der freie Wille"?
Gerade dann.
Warum?
Wir wären Clowns und Deppen, wenn wir glauben würden, dass es das Böse nicht gibt. Wenn wir dessen Existenz nicht akzeptieren und lernen damit umzugehen, verkennen wir uns selbst. Wir können nur glücklich sein, wenn wir zum Monster in uns stehen.
Haben Sie eigentlich immer noch manchmal die Fantasie, alles hinzuschmeißen, aus Ihrem Leben auszubrechen?
Diese Gedanken kommen immer wieder. Aber das ist, glaube ich, bei allen so, die ihren Beruf lieben: Liebe und Hass hängen eng zusammen. Das, was man liebt, hasst man mitunter auch. Man versucht immer, sich einzureden, man hätte die Freiheit zu entscheiden, das nicht mehr zu tun, was man tut, weil man einen Zwang dahinter empfindet. Und dieses Gefühl, es nicht müssen zu wollen, ist bei mir manchmal sehr stark.
Mit Zwang meinen Sie aber eher das Triebhafte dahinter als die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, oder?
Ja, das ist doch viel schlimmer. Der Mensch wäre so gern frei, ist es aber nicht. Wenn Leute mich fragen, warum ich diese oder jene Rolle gespielt habe, kann ich nur sagen: weil ich es musste. Das ist die einzige ehrliche Antwort.
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