: Sajudis: „Ein Moratorium bindet uns nicht“
■ Litauens Parlamentarier suchen den Königsweg zu Verhandlungen mit Moskau / Regierung in Vilnius schlägt Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung für die Zeit der Verhandlungen vor / „Privates“ Treffen zwischen Landsbergis und Gorbatschow schafft Ärger
Moskau (afp/taz) - Unter dem Eindruck innenpolitischer Auseinandersetzungen begann gestern im litauischen Parlament eine Debatte über die mögliche Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung vom 11.März. Gorbatschow hatte zuvor Verhandlungen über die Aufhebung der Wirtschaftsblockade und die Einleitung der litauischen Unabhängigkeit von einem solchen Schritt abhängig gemacht.
Den Parlamentariern liegen acht Entwürfe vor. Der Vorschlag der Ministerpräsidentin Kazimiera Prunskiene und ihres Stellvertreters Brasauskas sieht ein „vorübergehendes Moratorium“ vor, wonach die Unabhängigkeitserklärung für die Zeit der Verhandlungen zwischen Vilnius und Moskau ausgesetzt werden soll. Viele Abgeordnete fordern allerdings Bedingungen für diese Aussetzung. Einer der Entwürfe fordert beispielsweise von der Sowjetunion die Annullierung der Entschließung des Obersten Sowjets vom 3. August 1940 über den „Eintritt Litauens in die UdSSR“.
Prunskiene rechtfertigte ihren Entwurf am Montag abend vor Journalisten. Wenn die Unabhängigkeitserklärung umgesetzt werden solle, dann müsse man mit dem „Osten“ verhandeln. Auf diese Weise könnte Litauen sein Gesicht wahren. „Wenn wir das Moratorium nicht akzeptieren, werden wir isoliert bleiben und keine Unterstützung anderer Länder erhalten.“
Wie die Abgeordneten der litauischen Volksfront Sajudis stimmen werden, ist unklar. Sajudis ist im Prinzip gegen eine Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung. Der Sajudis -Wirtschaftsprofessor Kazimieras Antanavicus sagte aber der 'Financial Times‘, die Abgeordneten würden den von Prunskiene vorgeschlagenen Kompromiß am Ende akzeptieren: „Ein Moratorium bindet uns nicht, und falls uns Gorbatschow und der Kreml täuschen, werden wir daraus Kapital schlagen.“
Zusätzlichen Sprengstoff erhielt die Debatte durch die Nachricht, daß sich der litauische Präsident Landsbergis am Dienstag in Moskau mit Gorbatschow über Verhandlungsspielräume in der Frage der litauischen Unabhängigkeit unterhalten hätte. Landsbergis‘ Stellvertreter Kuzmitskas sagte, in dem Gespräch sei es um die „Bedingungen für das Moratorium“ der Unabhängigkeitserklärung gegangen. Aus der Umgebung des Parlaments verlautete, die Abgeordneten seien verärgert, weil sie „als letzte“ von dem überraschenden, sogenannten „privaten“ Treffen erfahren hätten.
Unterdessen wurden in Litauen die ersten litauischen Pässe an Regierungs- und Parlamentsmitglieder ausgegeben. Nach Angaben von 'Tass‘ werden im Laufe der nächsten Woche große Mengen dieser Pässe an junge Leute ausgegeben, damit diese leichter dem Dienst in der sowjetischen Armee entgehen können.
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