SÜSSES ODER SAURES : Vampire im Bioladen
Ich habe den ganzen Tag im Büro gehockt und an nichts gedacht. Auf dem Heimweg Stopp im Bioladen Sattva auf der Reichenberger Straße. Alles ist wie immer, außer dass Ali eine neue, für Sattva-Verhältnisse zu helle Lampe über der Theke hängen hat. Man sammelt seine samenfesten Möhren und Mangoldstangen in der Armbeuge zusammen, legt sie auf die alte Waage, ruft Ali das Gewicht in Gramm zu, woraufhin Ali etwas in seinen Taschenrechner tippt, Zahlen auf seinen Zahlenzettel schreibt und schließlich einen Preis nennt. Wenn man möglichst passend bezahlt, gibt es Lob, aber mit „Kleinkupfer“ – Ein- und Zwei-Cent-Münzen – braucht man Ali auch nicht zu kommen.
Bei Sattva tickt die Uhr anders. Im Sommer schließt Sattva ohne Ankündigung – und ohne dass sich ersehen ließe, ab wann wieder offen ist. Das Schaufenster wird einfach mit einem verblichenen Batiktuch verhängt und eine Postkarte von Stromboli in die Tür geklebt. Dann ist die Sattva-Belegschaft in der Sommerfrische, auf Stromboli, und bringt irgendwann später köstliche Tomaten von dort mit.
Heute fliegt die Tür mit einem Mal laut klingelnd auf. Drei verschmierte Vampire kommen hereingestürmt und krakeelen ihr „Süßes oder Saures!“. Ali geht in aller Seelenruhe zur Kiste mit den Brandenburger Elstar, holt drei heraus und hält sie den Jungs hin. Der Anführer befindet mit flüchtigem Blick: „Ey, lass abhauen, Scheiße hier, nur Äpfel.“
Als ich mein Fahrrad aufschließe, betreten die nächsten Kinder den Laden, das eine in schwarzem Umhang, das andere von Kopf bis Fuß in wehende weiße Leichenbinden gehüllt. Neben mir steht wartend ein bezopfter Grauhaariger mit Weste und betrachtet still die Auslage. Die beiden Kinder kommen aus dem Laden. Die Leiche läuft auf den Westenträger zu, reckt etwas Längliches und ruft: „Kuck mal, Papa, ich habe eine Gurke!“ Es klingt ein bisschen froh und ein bisschen verstört. Ali von Sattva lächelt. KIRSTEN RIESSELMANN