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SOMNAMBOULEVARD — RADIO DÉJA-VÒ Von Micky Remann

Gern höre ich im Schlaf Radio, wenn männliche und weibliche Stimmen abwechselnd mein rechtes und linkes Traum-Ohr vollrieseln, und ich will dir nicht vorenthalten, was sie zu sagen haben. Im Moment läuft so eine Kultursendung zum Thema: „Bevor ich meinen neuen Haarschnitt nicht im Klartraum ausprobiert habe, gehe ich erst gar nicht zum Friseur.“

Der Sprecher im O-Ton: „Was man nicht weiß, das muß man sich zusammenreimen. Und falls du es noch nicht gewußt hast: Die Gabe des Menschen, sich etwas zusammenzureimen, ist ungleich kostbarer als seine banale Fähigkeit, etwas zu wissen.

Etwas wissen kann schließlich jeder Depp, aber um sich etwas Unbekanntes aus Hirn und Fingern zu saugen, dazu bedarf es geradezu genialischer Unerschrockenheit. Wo ließe sich die besser üben als im Traum, der weiß, was er träumt? Hier siehst du das kühne ungesehene X, damit, wenn es dich tatsächlich erwischt, du in etwa weißt, worum es sich handelt.“

Darauf die Frau im anderen Ohr: „Daraus folgt der Umkehrschluß, daß du im Wachen nur wissen kannst, was dir aus dem Traum schon vertraut ist. Wenn dir also ein Echtzeit-X widerfährt, das es in deiner Erinnerung gar nicht gibt, dann rufst du aus: ,Ich glaub', ich träume!‘ Zu Recht, denn damit bestätigt dein Hirn, daß es das noch nicht existente X, das Nicht-X, im Déjà-vu-Modus schon vage hat klingeln hören. Immerhin!“

Ohrentausch, der Mann: „Stimmt. Ich weiß, daß ich Schnupfen habe, wenn sich meine Rotznase mit Schnief-Erinnerungen der gleichen Art deckt. Wahrnehmen kann ich nur das, wofür mein Bewußtsein Wiedererkennungsmuster besitzt. Etwas kennen heißt, sich erinnern. Das Ganze wird in die Zukunft vorgespult, und schon entsteht der Eindruck einer festen, berechenbaren Welt.

Ein einfacher, aber unerhört wirksamer Trick, der aber nur so lange funktioniert, wie das Gegenwarts-X im Rahmen vergangener Erfahrung einen Sinn ergibt. Wenn das nicht der Fall ist und der Griff in die Gedächtniskiste ins Leere geht, was ja auch vorkommt, dann ... ja was eigentlich?“

Frauenstimme: „Dann mußt du dir was Neues zusammenreimen aus dem X, vielleicht ein U oder Y oder so. Wo? In der Softwareschmiede des Somnamboulevards natürlich.

Sie ist dazu da, daß du im Schnellvorlauf einen Haufen möglicher Mental-Landkarten sammelst, je mehr desto besser, auf die du bei wachem Bedarf Zugriff hast. Das macht dich sinnbereit, handlungsfähig und überraschungsfroh, und außerdem hast du die Nase vor denen, die weder X noch U je geträumt haben und deshalb auch beim Anblick ihrer mißratenen Neufrisur lange Gesichter ziehen, während sie zufällig wach sind. Daher unser Rat: Träum es! Denn if you can dream it, you can do it.“

Nun wird das bekannte Jingle von Radio Déjà-vu eingeblendet, um den nahenden Werbeblock anzukündigen.

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