SOLDAT DAHEIM : Hindukusch-Paranoia
Am Stehtisch vor dem Späti rührt ein Soldat geistesabwesend im Plastikkaffeebecher und produziert Amokfantasien – also beim Betrachter. Dessen Vorstellung ist mangels eigener Anschauung von einschlägigen Bundeswehr-TV-Dramen geprägt. In denen haben Afghanistanveteranen eigentlich immer eine gewalttätige, posttraumatische Vollmeise.
Auf den ersten Blick könnte man den Mann in Flecktarn für einen der Alkoholiker halten, die sonst immer vor dem Späti rumhängen. Aber das Secondhand-Camo der Pichelbrüder ist nicht so gut in Schuss, und ihre Füße stecken in schmutzigen Socken und Sandalen – und nicht in hochglanzgewienerten Kampfstiefeln wie bei dem Uniformträger.
Das Namenschild auf der rechten Brusttasche verzeichnet einen auf das Handwerkertum der Vorfahren weisenden Namen, ein runder Armaufnäher den Einsatz am Hindukusch: „ISAF“ mit arabischen Zeichen drunter. Die Gesichtsfarbe des Mannes hat die ungesunde Fleckigkeit, die entsteht, wenn sonnengegerbte Vollbartträger sich nach langer Zeit rasieren, und auch sein schütteres blondes Haar macht einen wirren Eindruck. In der fernsehgetriggerten Fantasie sind das ausreichend Anzeichen für drohendes Unheil, womöglich ringt er nur noch mit sich: zuerst die treulose Frau erschießen? Oder den korrupten Schreibtischtäter?
In Wirklichkeit kippt der Soldat den letzten Schluck Kaffee, klemmt seine olivgrüne Dokumentenmappe unter den Arm und marschiert über die Brunnenstraße, um in der Hofeinfahrt mit dem Schild einer Lackiererei zu verschwinden. Wohl doch schon wieder in der bundesdeutschen Realität angekommen, in der sich Dramen um Lackkratzer am Kotflügel drehen und nicht um improvisierte Sprengfallen mit Schwefelsprengstoff aus Ziegenpisse und Handyfernzündung. ANTON WALDT