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SED gibt Druck der Parteibasis nach

■ SED macht zur Frage der Wahlen erste Zugeständnisse / Politbüro-Wahlen diskreditiert: Wiedergewähltes Politibüro-Mitglied Böhme in seinem Bezirk Halle abgwählt / Für Mitte Dezember Parteikonferenz...

Ost-Berlin (taz/ap/dpa) -Die SED-Führung beugt sich dem massiver werdenden Druck der Parteibasis. Das Zentralkomitee berief auf seiner gestrigen Sitzung in Ost-Berlin erstmals seit 1956 eine Parteikonferenz ein, die den künftigen Reformkurs festlegen soll. Daß die Partei sich auch den weitgehenden gesellschaftlichen Forderungen nicht mehr entziehen kann, signalisiert die Ankündigung von Generalsekretär Egon Krenz, es werde in Zukunft auch in der DDR freie Wahlen geben. Allerdings ließ Krenz gestern während eines einstündigen Gesprächs mit dem Nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Rau anklingen, eine Vorverlegung der Wahlen sei nicht geplant. Die nächsten Volkskammerwahlen sind bislang für 1991 vorgesehen. Wie labil die personellen Entscheidungen des Zentralkomitees vom Vortag sind, zeigte unterdessen ein pikanter Vorgang in der Provinz. Hans Joachim Böhme, der mit dem schlechtesten Ergebnis in das neue Politbüro gewählt worden war, wurde gestern als SED-Bezirkssekretär von Halle abgewählt. Bei 62 Gegenstimmen fanden sich nur 4 Mitglieder der Bezirksleitung, die den Spitzenfunktionär, der auch das Amt eines ZK-Sekretärs begleitet, halten wollten. Gleichzeitig wurde in Ost-Berlin die Einberufung der Volkskammer für kommenden Montag beschlossen. Verschiedene Parteien und gesellschaftliche Organisationen hatten in den vergangenen Tagen eine vorzeitige Sitzung gefordert, um die aktuelle Lage zu beraten.

Die Einberufung der Parteikonferenz steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Demonstration von Berliner SED -Grundorganisationen am Mittwoch. Dort war sogar die weitergehende Forderung nach einem vorgezogenen Parteitag erhoben worden. Die Parteikonferenz wird laut 'adn‘ die aktuelle Lage von Staat und Partei diskutieren, den für Mai 1990 angesetzten Parteitag vorbereiten und Veränderungen im Zentralkomitee beschließen. In der Geschichte der DDR gab es bisher drei Parteikonferenzen, die letzte 1956. In seiner Eröffnungsrede hatte Krenz die Möglichkeit einer Parteikonferenz noch nicht erwähnt. Das deutet darauf hin, daß die Entscheidung spontan und unter dem Eindruck der Demonstration vor dem ZK-Gebäude getroffen wurde.

Bei der gestrigen Generaldebatte sagte der am Vortag ins Politbüro berufene Hans Modrow, die Partei habe auf ihrem vergangenen Parteitag 1986 „die Chance für einen notwendigen Wandel verpaßt“. In der Partei herrsche Bitternis. Es gehe jetzt darum, die Aktionsfähigkeit mit den Mitgliedern der Grundorganisationen wiederherzustellen. Abwarten und Zaudern erhöhe nur den Druck. Die Grundsatzrede des Staats- und Parteivorsitzenden Egon Krenz wurde am Freitag in vollem Wortlaut im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ abgedruckt. Krenz kündigte wörtlich „ein neues Wahlgesetz“ an, „das eine freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahl gewährleistet und in jedem Stadium der Wahl die öffentliche Kontrolle garantiert“. Die Volkskammer müsse umgehend ein entsprechendes Gesetz beschließen. Politbüromitglied Günter Schabowski sagte dazu im Westdeutschen Rundfunk: „Wenn wir uns zu freien Wahlen bekennen, dann bekennen wir uns dazu ohne Einschränkungen und mit allen Risiken, die damit verbunden sind.“

Bereits in der vorigen Woche hatte Krenz Grundzüge eines „Aktionsprogramms“ vorgestellt, das gestern dem Zentralkomitee zur Diskussion vorgelegt wurde. Das Programm sieht neben einer Wahlrechtsänderung eine Entflechtung von Staat und Partei, eine Wirtschaftsreform, die Einrichtung eines Verfassungsgerichts, ein neues Mediengesetz und die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes vor.

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