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SCHUHE ODER LEBEN!

■ Das Türkische Kulturensemble spielt „Zwei Verlorene in einer schmutzigen Nacht“ im Ballhaus Naunynstraße

Das Türkische Kulturensemble Berlin hat nach Dürrenmatts „Die Physiker“ ein Theaterstück ausgesucht, das sich mit den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit und Verelendung auseinandersetzt. Das Thema und der Autor des Stückes, der Brasilianer Plinio, versprechen gepfefferte Abende.

Plinio Marco gehört nicht zu jenen durchgeistigten Schriftstellern, die in ihrer Jugend schwer mit ihren geistigen Vorfahren ringen, um später ihre Bildung in großen Werken zu dokumentieren. Marco träumte damals vom Fußballerdasein, wurde aber Soldat bei der Luftwaffe, arbeitete nach der Einsicht, daß dies der Weisheit letzter Schluß nicht ist, beim Zirkus, manchmal als Schauspieler, fand schließlich zur Hafenarbeiter-Gewerkschaft und inszenierte am gewerkschaftseigenen Theater. Marco wurde eine Zeitlang von Beckett protegiert, muß den Berichten über ihn zufolge ein ausgezeichneter Taschendieb sein und ist den Behörden und der Polizei ein Dorn im Auge. Diese suchten Verbindungen von Marco zur Stadtguerilla, jene fanden in seinen Theaterstücken „Anhäufungen von Perversitäten, Obszönitäten, Anomalien und Morbidität, die eine konstruktive Botschaft vermissen läßt“. Das sind Floskeln, die uns schlecht die Gründe der Schikane verschleiern, wie sie nicht nur in Brasilien praktiziert wird.

Die „Verlorenen“ der brasilianischen Gesellschaft sind die Hauptfiguren in Marcos Stücken. Sie werfen mit „Scheiße“ und „du schwule Sau“ und „du kotzt mich schon lange an“ um sich und richten ihre Flüche noch nicht einmal gegen „die da oben“, sondern gegen sich selbst. Sie zerfleischen sich, sie bringen sich um und sind dabei noch nicht einmal unsympathisch. Das gehört sich nicht, auch wenn da wer vielleicht noch „gorkiesk“ oder „genetien“ murmelt. Es fehlt der mitleidsduftende Weichspüler, der Kritisches so kuschelig fürs Gewissen wäscht.

Die „Zwei Verlorenen in einer schmutzigen Nacht“ heißen Paco und Tanho. Sie könnten auch Tom und Jimmy oder Mehmet und Kerim heißen. Ihre Geschichte wiederholt sich überall. Paco, der Stricher von den Markthallen, redet ständig von einer Violine, mit der er in den Kneipen ein paar Groschen verdienen könnte. Tanho hat studiert und will nur ein Paar neue Schuhe, um endlich zu den Vorstellungsgesprächen gehen zu können, die einem „ordentlichen Beruf“ vorausgehen. Dann kann er auch seiner Familie daheim etwas Geld schicken.

Tanho und Paco quälen und prügeln sich. Sie müssen auf engem Raum zusammenleben und sind so verschieden voneinander, wie sie sich ähneln - eine Notgemeinschaft. Paco kann gemeiner sein, hängt aber mehr an Tanho als der an ihm. Darum leiht er ihm auch nicht seine frisch geklauten Schuhe, denn er weiß, daß Tanho ihn verlassen wird, wenn er erst einmal einen Job gefunden hat.

Also überfallen die beiden nach langem Überlegen die Verliebten im Park, um an die Kohle für Schuhe und Violine heranzukommen. Doch beim Aufteilen der Beute, zu der auch ein Paar Schuhe gehört, kommt es zu neuen Streitereien. Die Schuhe sind Tanho nämlich zu klein. Aber Tanho hat noch den Revolver vom Überfall. In einem Anfall von Rage überwindet Tanho alle Skrupel, lädt den ehemals bluffleeren Revolver und nimmt grausame Rache an seinem Kumpel.

Obwohl das Ende zu Beginn vorweggenommen wurde, kommt es doch aus heiterem Himmel. Olcay Ekinci (Tanho) und Necati Seren (Paco) übertreiben es mit der Komik, die Marco in seinem Stück verpackt hat. Auf einem auseinandergenommenen VW-Bus zeigen sie ihr akrobatisches Können. Sie schreien viel und trampeln laut, und Ekinci pinkelt gekonnt in ein einsames Klo. Das ist alles sehr lustig, macht aber aus einem frischrenovierten Ballhaus noch keine Elendsviertel hinter den Markthallen. Da nutzen auch die Flecken auf Tanhos T-Shirt nichts mehr.

Claudia Wahjudi

Türkisches Kulturensemble Berlin: „Zwei Verlorene in einer schmutzigen Stadt“. Noch am 30.9., 20 Uhr im Ballhaus Naunynstraße.

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