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S I C H T V E R M E R K

■ Lila Pause im kalten Krieg

Prachtstraße in SO36: Ein DDR-Besucher mit Sprößling auf der Oranienstraße in Kreuzberg: „Das ist also der Kurfürstendamm.“ Ob er mit dieser Äußerung mehr seiner Ehrfurcht oder Enttäuschung Ausdruck verleihen wollte, war im nachhinein nicht mehr zu erforschen.

Die spinnen, die Amis: Zehn Tonnen Bruchstücke des ehemaligen antifaschistischen Schutzwalls sind gestern auf dem Hamburger Flughafen in eine Maschine nach New York verladen worden. Welcher Kopf hinter dieser Aktion steht, ist unbekannt. Bekannt ist dagegen die US-amerikanische Manie, Mangel an eigener Geschichte mit dem Aufkaufen von historischen Baulichkeiten aus aller Welt zu kompensieren. The Wall in Disneyland?

Zumindest das Mauerstück vor dem Brandenburger Tor dürfte jedoch noch eine Weile erhalten bleiben. Dort ist sie nach Angaben des barrikadenerfahrenen Polizeipräsidenten Georg Schertz bis zu drei Meter dick und massiv gegossen. Angeblich seien für den Durchbruch acht Stunden Arbeit mit schwerem Gerät erforderlich.

Futter für die Statistik: 32.000 Portionen aus der Gulaschkanone, 20.000 Liter Tee und 1.800 Quartiere mit Frühstück verteilten am Wochenende diverse Berliner Wohlfahrtsorganisationen. Wer nicht in diesen Genuß kam, schlief im Europa-Center, in der Flughafenhalle oder im Knast. In der ehemaligen Jugendarrestanstalt in Neukölln wurde Platz für 120 Besucher aus der DDR gemacht. Einige Schwestern und Brüder setzten sich spontan über die Regeln des kapitalistischen Westens hinweg und verwandelten Hotels in volkseigene Schlafunterkünfte. Die Rezeptionen alarmierten daraufhin nicht die Polizei, sondern Hilfsorganisationen.

Der Handverkauf der taz am Grenzübergang Bernauer Straße zum Kurs von 1:1 ergab nach Zählung der Kasse folgendes Resultat: 2.600 Mark (Ost); 1,30 Dollar; 130 Zloty; 4 Hustenbonbons; 1 Neues Deutschland; 1 Tempotaschentuch; 1 Wurstbrot (Ost);

Beobachtet wurde der Handverkauf von einem Hauptstädter jenseits der Mauer. Er kam kurz über die Grenze, kaufte zehn Exemplare zum Mengenrabbatpreis von 10,00 Mark (Ost) und zog wieder ab nach Hause. Den „Weststreß“ wollte er sich nicht antun; dann schon lieber zu Hause in Ruhe Zeitung lesen.

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