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„Rutschbahn in den Untergrund“

■ Gutachter–Streit in Boock–Revisionsverfahren: War Peter Jürgen Boock 1977 drogenabhhängig, ist er „schuldfähig“?

Aus Stammheim D. Willier

Als der 21jährige Peter Jürgen Boock 1972 die Festnahmen von Baader, Meins, Raspe und Gudrun Ensslin im Fernsehen verfolgte, dachte er sich „Jetzt bist Du dran“. Zwei Jahre zuvor hatten Andreas Baader und Gudrun Ensslin Boock geholfen, aus ei nem Erziehungsheim zu entkommen. Monatelang lebten sie zusammen, Andreas Baader war für Boock eine Vaterfigur geworden. Das ist vierzehn Jahre her. Vier Jahre später engagierte sich Peter Jürgen Boock in der RAF, man wollte die Stammheimer Gefangenen befreien. Wieder ein Jahr später wurde der Frankfurter Bankier Jürgen Ponto ermordet, war eine Raketenabschußanlage gegenüber der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe aufgestellt aber nicht gezündet worden. Wenig später kamen bei der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer dessen Bewacher ums Leben, er selbst wurde am 18. Oktober tot aufgefunden. Die RAF bekannte sich zu den Anschlägen. Eine „Rutschbahn in den Untergrund“ nennt das heute der Göttinger Psychiater Prof. Specht. Als zwei Monate später der französische Krebsspezialist Leon Schwartzenberg in eine Pariser Wohnung gerufen wurde, fand er dort einen ausgezehrten und schmerzgepeinigten jungen Mann - ein politischer Flüchtling, vermutete der Arzt. Beine und Arme des Patienten waren mit Einstichen übersät. Erst bei seinem zweiten Besuch erkannte der Arzt, daß seine erste Diagnose, Verdacht auf Darmkrebs, unzureichend war, sein Patient war hochgradig drogenabhängig. Peter Jürgen Boock wurde drei Jahre später in Hamburg festgenommen und im Mai 1984 vom 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart in Stammheim zu dreimal Lebenslänglich und 15 Jahren Haft verurteilt. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil im Strafmaß auf, Boocks Drogenabhängigkeit war nicht „gewürdigt“ worden. Jetzt, in der Revisionsverhandlung, richtet sich diese Frage vor allem an die vier Gutachter: War Peter Jürgen Boock im Herbst 1977 drogenabhängig, und wenn ja, war er dann trotzdem voll oder nur „beschränkt schuldfähig“? Die ersten, vom Gericht bestellten Gutachter, Dr. Täschner aus Stuttgart und Prof. Bschor aus Berlin, hatten diese Frage in der vergangenen Woche unterschiedlich beantwortet. Am vergangenen Dienstag traten nun die von Bundesanwaltschaft und Boocks Verteidigern präsentierten Gutachter, der Kölner Psychiater Prof. Bresser und Prof. Specht, Psychiater und forensischer Mediziner aus Göttingen auf: Für eine Drogenabhängigkeit zum Tatzeitpunkt gebe es keine stichhaltigen Hinweise, urteilt Prof. Bresser, eine „krankhafte seelische Störung mit Umformung der Motivationsstruktur“ diagnostizierte Prof. Specht. Diese „erhebliche krankhafte Störung“, verminderte die Schuldfähigkeit. Anders der inzwischen pensionierte Prof. Bresser: Er hatte Boock erst gar nicht untersucht, sondern sich auf Aktenstudium und seine Eindrücke bei der Hauptverhandlung beschränkt. Es gebe, so Prof. Bresser, für die Tatzeitpunkte keinerlei Zeugenhinweise auf eine Drogenabhängigkeit die Diagnose des Pariser Arztes sei erst im Dezember 77 erfolgt. Die einzigen Zeugen aber, Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar oder andere Mitglieder der damaligen Gruppe, die etwas über diese Zeit wissen, haben bisher jede Aussage verweigert. Kronzeuge Volker Speitel soll nach Auskunft des BKA noch immer verschwunden sein. Das Dilemma des Gutachterstreits wird sich bei ihrer Befragung in der kommenden Woche zeigen. Prof. Bresser sowie sein Stuttgarter Kollege Täschner stützen sich in ihrer Beurteilung weitgehend auf das rechtskräftige Urteil des ersten Prozesses: Wenn der Angeklagte die Taten begangen hat, dann konnte er nicht drogenabhängig gewesen sein. Ein persönlicher Tatbeitrag aber, daran erinnerte jetzt der Göttinger Psychiater Prof. Specht, sei im ersten Urteil gar nicht zweifelsfrei festgestellt worden.

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