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Rußland, ein Scheißhaufen

■ Alexej Schipenkos „La Fünf in der Luft“ in Darmstadt

Wer ist Alexej Schipenko? Ein Glasnost- Anarchist, ein Punk-Beckett der neunziger Jahre oder schlicht der wichtigste junge Dramatiker der Sowjetunion? Letzteres wäre er sicher gern, obwohl er kokett Sprüche klopft und meint, hätte er eine Million, würde er nicht mehr schreiben und kaufte sich eine Insel im Mittelmeer.

Eines zumindest kann man mit Sicherheit sagen: Er hat nichts von jener linkischen Scheu, die man häufig bei anderen Autoren sieht, wenn sie zum Schlußapplaus der Uraufführung auf der Bühne erscheinen. Alexej Schipenko meistert das lässig und professionell, denn er hat's gelernt, sei es als Chef der Moskauer Underground-Rockgruppe „Teatr“, oder als Absolvent der renommierten Schauspielschule des Moskauer Künstlertheaters. Acht Theaterstücke hat der 29jährige in den letzten sechs Jahren geschrieben. Sein erstes, Der Beobachter, wurde vor zwei Jahren in Moskau inszeniert, La Fünf in der Luft haben die Regisseure in der Sowjetunion bisher ignoriert.

Wochenende in Moskau, in einem dieser Häuser mit Korridoren, von denen die Zimmer für die Mieter abgehen. Serjoscha, Ende Sechzig, und seine Mutter, so alt wie das Jahrhundert, vegetieren in einem davon. Will Serjoscha aufs Klo, scheißt er den Korridor voll; die Mama erledigt dasselbe im Bett. Ansonsten liefern sie sich in ein Nichts zusammenbrechende Wortgefechte — Becketts Dialogstruktur reproduziert Schipenko perfekt. Die Sprache seiner Endspielgegner ist allerdings eine andere. Unter 178 mal Scheiße und 143 mal Arschloch machen sie's nicht. Zwar haben sie etwas von Hamm und Clov, Wladimir und Estragon, malträtieren einander und ängstigen sich, der andere könnte zuerst sterben. Aber Schipenkos Paar kann man nach einer halben Stunde nicht mehr zuhören — nicht etwa aus Prüderie, sondern weil Serjoscha und seine Mama langweilig werden.

„Rot Front! Schwarz Front! Braun Front! Grün Front! Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ Serjoscha macht sich über die Ideologien lustig, die doch scheinbar alle Träume unter sich begraben haben. Nur an einem hängt er noch, am Krieg, und flugs stimmt er ein Kriegslied an. Die Mama fällt mit „schöner, samtweicher Stimme“ ein und es kommt zu einem „Duett in Tränen“ (Regieanweisung). Eine der wenigen Sequenzen, in denen Schipenko sich nicht nur der Beckettschen Dialogstruktur bedient, sondern etwas von seinen Figuren preisgibt. Das geschieht immer dann, wenn sie an ihre wunden Punkte rühren: Serjoscha spricht die Mama auf den Botaniklehrer an, mit dem sie im Bett Hefte korrigierte, die Mama stellt das Einzige in Frage, wofür Serjoscha sich noch begeistern kann: Die „La Fünf in der Luft“, jenes sowjetische Kampfflugzeug „La 5“, vor dem der deutsche Landser sich fürchtete und das Serjoscha im „großen väterländischen Krieg“ flog. Und dann gibt es noch eine seltsame Frau; „still, rothaarig, schön“, will Schipenko sie, und daß sie immer im Zimmer sitzt. In Darmstadt tritt sie leibhaftig auf und ab. Was die Figur nicht plausibler erscheinen läßt, verkörpert sie doch alles mögliche: den Tod, oder — ganz banal — die Briefträgerin. Serjoscha will von ihr Rente, sie aber beginnt plötzlich von Lenin zu plaudern: Sie hat mit ihm gesprochen, damals, und zitiert seinen Traum von „einem künftigen, friedlichen Sozialismus“. Das geschieht mitten in der Schlacht der beiden Alten, und sprengt fast die Dimensionen des Textes.

La Fünf in der Luft krankt daran, daß Schipenko dem Stück seine Sicht auf das letzte Jahrhundert russischer Geschichte einzuimpfen versucht. Ein Scheißhaufen ist sie ihm zufolge, und das zu illustrieren, läßt er nichts unversucht. Mit seiner Wortflut aus dem Analbereich zerstört er aber eher, was ihm dennoch gelungen ist: Das für sich sprechende Bild der Alten im Bett etwa, Mütterchen Rußland, Adlige und Hure, mit der es alle großen Dichter des Landes trieben. Sie stirbt, und so unvermittelt, wie die Lenin-Plauderei einsetzte, serviert ein Butler Champagner. Dann hat auch Serjoscha den letzten Atemzug getan hat, und all die, die übers Wochenende auf ihrer Datscha waren, kommen zurück und bestaunen das tote Paar.

Anfang des Jahres hatte Ria Endres' mit Acht Weltmeister (ebenfalls in Darmstadt) gezeigt, daß eine Neuauflage Beckettscher Dialog-Tricks durchaus nicht epigonales, sondern überaus witziges und in sich stimmiges Theater hervorbringen kann. Epigone ist Alexej Schipenko nicht, und er will auch etwas ganz anderes als Ria Endres. Etwas von ihrer Klarheit würde ihm allerdings guttun. Jürgen Berger

Alexej Schipenko: La Fünf in der Luft. Regie: Peter-Cornelius Carp. Bühne: Klaus Regenbogen. Darsteller: Friedhardt Kazubko (Serjoscha), Monika Dortschy (Alte), Margit Schulte-Tigges (Frau). Staatstheater Darmstadt

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