: Russischer Antisemitismus heute
■ Der im Januar dieses Jahres nach England emigrierte sowjetische Journalist Vitaly Vitalyev berichtet von dem immer unverschämteren Auftreten russischer Antisemiten, nicht nur des Pamjat
Was sind 'Yids‘?“ fragte mich mein Sohn neulich. „Woher hast Du dieses schmutzige Wort?“ brüllte ich ihn an. „Es stand an einem Haus in unserer Straße“, antwortete mein Sohn schüchtern. Und tatsächlich zeigte er mir später eines der Häuser, an denen er auf seinem Schulweg immer vorüberkam. Es war „geschmückt“ mit einem frischen Graffiti in riesigen Lettern: „Tod den Yids!“
Irgendwo habe ich gelesen, wenn jemand auf eine Mauer oder eine Wandtafel schreibt, dann tut er das in der Regel in Augenhöhe. Wenn diese Annahme richtig ist, dann war der unbekannte Urheber dieses Graffiti alles andere als ein Kind.
In gewisser Weise hatte mein Sohn das Glück, daß er nicht wußte, was der Begriff „Yids“ bedeutet. Seine Altersgenossen von einer Leningrader Oberschule wissen es nur zu gut. Einem im letzten Monat veröffentlichten Bericht der 'Literarnaja Gazeta‘ zufolge wird diese Schule von einer antisemitischen Vereinigung namens „Pamjat“ („Erinnerung“) beherrscht, und es ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß die Lehrer - auch die Oberlehrer - alle Jungen oder Mädchen, deren Nase ihrer Meinung nach eine verdächtige Form aufweist, als „schmutzige Jüdin“, „Yid“ oder „Kike“ beschimpfen.
In der letzten Ausgabe des vergangenen Jahres druckte die Zeitung den Brief einer 75jährigen Moskauerin und verdienten Heldin des Großen Vaterländischen Krieges und der Arbeit ab, deren Großeltern im Jahre 1941 von den Nationalsozialisten in Babi Yar umgebracht wurden. In diesem Leserbrief heißt es: „Früher habe ich nie Antisemitismus verspürt, aber jetzt habe ich Angst, auf die Straße zu gehen - meine Nachbarn werfen mir unfreundliche Blicke zu, sie beschimpfen mich, sie belegen mich mit häßlichen Namen...“
Handelt es sich dabei nur um einige wenige Einzelfälle? Nein, es sind zwei kleine Episoden in der unheilvollen neuen Welle des russischen Antisemitismus, die in den letzten beiden Jahren das Land überschwemmt hat - stillschweigend geduldet von den Behörden. Den jüngsten Höhepunkt in dieser Entwicklung markiert, was kürzlich im Moskauer Schriftstellerklub stattfand.
Der Schriftstellerklub ist eine überaus privilegierte Einrichtung, die sorgfältig bei Tag und Nacht bewacht wird, damit sich ja kein Fremder in die gutbestückten Bars und Restaurants dieses Klubs hineinschmuggeln kann. Selbst für jemanden wie mich, der immerhin einen Mitgliedsausweis des sowjetischen Journalistenverbandes vorzeigen kann, ist es aussichtslos, hier Eingang finden zu wollen.
Diese aufwendigen Kontrollen haben jedoch offenbar nicht verhindern können, daß ein paar Dutzend Schlägertypen von Pamjat, die über keinerlei Mitgliedsausweise einer Gewerkschaft oder eines Verbandes verfügen (einmal abgesehen von den „Ausweisen“ der „Vereinigung des russischen Volkes“, einer Anfang des Jahrhunderts gegründeten antijüdischen Organisation), in den Klub gelangten. Diese Leute waren bewaffnet mit Megaphonen und Schlagringen. Wie sie sich Zutritt in den Klub verschaffen konnten, ist immer noch ein Rätsel, aber es war der 18. Januar 1990, und es war keineswegs ein Zufall, daß sie sich diesen Tag für ihre Aktion gewählt hatten. Sie waren gekommen, um die Sitzung des „April“ zu sprengen - einer Vereinigung progressiver Schriftsteller aus der Zeit vor der Perestroika, die sich an diesem Tag im Schriftstellerklub versammelt hatten, um über ihre internen Probleme zu diskutieren.
Einige dieser Autoren waren jüdischer Abstammung, die meisten von ihnen jedoch waren Russen, Georgier, Ukrainer usw. Die Mitglieder der Pamjat betrachten jeden, der nicht gegen die Juden kämpft, als jüdischen Freimaurer. Die Bande packte ihre Megaphone aus und begann zu rufen: „Ihr dreckigen jüdischen Bastarde, ihr seid gar keine Schriftsteller! Haut doch ab nach Israel! Wir sind jetzt die Herren in diesem Land, und weder die Partei noch der KGB oder die Miliz wird euch beistehen! Das nächste Mal kommen wir mit Maschinenpistolen!“
Danach gingen sie zum Einsatz körperlicher Gewalt über. Sie zerschlugen mit ihren Schlagringen Gläser, Brillen und Gesichter, sie drehten den Schriftstellern die Arme um und überschütteten sie mit Schmähungen und Beleidigungen.
Was die Miliz betraf, so hatten sie völlig recht. Obwohl sie sofort benachrichtigt wurde, brauchte die Miliz volle vierzig Minuten, bis sie am Tatort erschien, wo sie nicht etwa Maßnahmen traf, um den Pogrom zu beenden, sondern, im Gegenteil, die Schläger von Pamjat noch in Schutz nahm. Sie eskortierte sie höflich zum Ausgang und setzte sie auf freien Fuß. Die Miliz ignorierte ganz einfach die Tatsache, daß die Banditen gegen eine ganze Reihe von Bestimmungen der Verfassung und des Strafrechts verstoßen hatten. Der Anführer der Bande, ein gewisser Smirnow, wurde am Ausgang von zwei Männern in Zivil erwartet, die ihn freundschaftlich umarmten und dann gemeinsam mit ihm weggingen.
Ob sie das nächste Mal tatsächlich mit Schußwaffen kommen werden? Ich fürchte, ja. Der Pogrom im Schriftstellerklub war nur eine kleine Episode in einer langen Kette von Ereignissen, die auf das kontinuierliche Anwachsen neofaschistischer Ressentiments in der Sowjetunion verweisen.
Im Jahre 1988 veröffentlichte ich in der Zeitschrift 'Krokodil‘ eine Reihe von Artikeln über die Leningrader Nazis. Anfangs wurden sie von den Stadtvätern ganz einfach ignoriert. Erst als die Nazi-Schlägertrupps das Denkmal für die Veteranen des Krieges am Stadtrand von Leningrad schändeten und zerstörten, wurde die zuständige Chefideologin der Stadt, Madame Barionva, abberufen, degradiert und zur Strafe auf den untergeordneten Posten einer Leiterin des städtischen Lenin-Museums versetzt.
Immerhin fanden meine Artikel ein ungewöhnlich starkes Echo unter den Lesern der Zeitschrift. Ich bekam mehrere tausend Zuschriften, darunter viele von Faschisten. Sie enthielten Drohungen und obszöne Beschimpfungen und kamen aus allen Bereichen des Landes.
Immer, wenn die Geschichte sich an einem Wendepunkt befindet, kommt es unausweichlich zu extremistischen Ausbrüchen irgendeiner Form. Unsere derzeitige Situation ist geprägt durch den Zusammenbruch des stalinistischen Systems. Muß das jedoch bedeuten, daß Extremisten einfach ignoriert oder sogar noch stillschweigend ermutigt werden dürfen?
Hier eine kurze, traurige Chronik der „Errungenschaften“ von Pamjat in den letzten Monaten: antisemitische Flugblätter, die an zahlreiche Redaktionen in Moskau geschickt wurden; Pogromdrohungen; antijüdische Versammlungen; Veröffentlichung eines chauvinistischen Buches von A. Romanenko mit dem Titel Zum Klassencharakter des Zionismus; Überfälle auf die Datschas von jüdischen Intellektuellen in der Umgebung von Moskau; Handgemenge auf dem Puschkin-Platz in Moskau, wo mehrere Männer mit „verdächtigen Gesichtern“ brutal verprügelt wurden; Veröffentlichung eines Artikels über „Russophobie“ in der Zeitschrift 'Nasch Sowremennik‘. Der Autor des besagten Artikels, ein Akademiker mit Namen Igor Schafarewitsch, sprach darin von einem kleinen Volk (eine euphemistische Bezeichnung für Juden), das ein großes Volk (die Russen) beherrsche.
Hunderte von unverhohlen antisemitischen Artikeln in der 'Literarnaja Rossija‘, der 'Nasch Sowremennik‘ und der 'Molodaja Gwardija‘ - offizielle Bastionen der antisemitischen Presse - heizten die Hysterie noch weiter an. Als Beispiel sei hier ein solcher Artikel aus der 'Molodaja Gwardija‘ zitiert: „Nein, wir mögen keine Juden in der UdSSR, und niemand kann uns zwingen, sie zu mögen.“
Auf diese Weise genießen die Antisemiten die Unterstützung der offiziellen Presse, und das in einem Land, dessen Verfassung die Verbreitung rassistischer Gedanken ausdrücklich verbietet. In diesem Zusammenhang ist es bestürzend, daß sich die Auflage der 'Nasch Sowremennik‘ in der letzten Zeit fast verdoppelt hat und heute fast eine Million Exemplare erreicht.
Am meisten beunruhigt jedoch die Tatsache, daß diese antisemitische Bewegung von Leuten angeführt wird, die man formell als Intellektuelle bezeichnen könnte.
Angesichts einer derart massiven Unterstützung läuft Pamjat geradezu Amok. Voraussetzung für die Aufnahme in diese Organisation ist, daß man die Adressen von drei jüdischen Familien angibt - diese Information teilte T. Golenpolski, der Herausgeber der 'Jüdischen Kulturchronik‘, anläßlich des Internationalen Runden Tisches der Journalisten im letzten Oktober in Moskau mit. Es sieht also ganz danach aus, als bereite man sich auf eine neue „Endlösung“ vor, während die Herrschenden die Hände in den Schoß legen. Im Dezember 1989 veröffentlichten wir ein antistalinistisches Sonderheft des 'Krokodil‘ zum „Gedenken“ an den 100. Geburtstag des Diktators. Danach wurden wir mit einer Flut von antisemitischen Leserbriefen überschwemmt, in denen es hieß, wir sollten Stalin in Ruhe lassen - mit dem Zusatz, daß ausschließlich die Juden von solchen Verunglimpfungen profitieren würden.
Man braucht nicht groß zu rätseln, warum die herrschende Elite die Aktiväten von Pamjat ganz einfach ignoriert. Als Begründung dient dabei schlicht das Prinzip des Pluralismus. Das ist Unsinn. Der Pluralismus duldet alles, außer einem Angriff auf den Pluralismus selbst. Der wahre Grund ist der, daß sich die Herrschenden in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung nur dann an der Macht halten können, wenn die Stimmung im Lande von sozialer Unruhe, Instabilität und wechselseitigem Haß bestimmt wird. Und die beste Methode, das zu erreichen, besteht darin, einen Sündenbock ausfindig zu machen, der an allem Schuld trägt. Wer ist dafür verantwortlich, daß die Regale in den Läden leer sind? Gerissene jüdische Geschäftemacher in den Kooperativen. Warum nimmt die Kriminalität immer mehr zu? Weil jüdische Journalisten der Unterwelt beibringen, wie sie die armen Sowjetmenschen berauben können. Sie haben unser Land in den Ruin getrieben, und jetzt flüchten sie nach Israel. „Diesmal werden wir euch nicht entwischen lassen wie damals unter Trotzki, wir werden euch hier in Rußland töten“ - so der Tenor eines in der Zeitschrift 'Ogonjok‘ abgedruckten Leserbriefs.
„Wenn es keine Juden gegeben hätte, hätte man sie erfinden müssen“, hat Einstein einmal gesagt. Das jüngste Blutbad in Baku, das von der Parteimafia angezettelt wurde, wobei man vor allem die Armenier zum Sündenbock stempelte, wirkt wie eine Bestätigung dieses Gedankens. Welchen Beweis brauchen die Herrschenden noch? Einen offenen Völkermord? Sie werden ihn nur allzu bald geliefert bekommen. Das Ganze weckt starke Erinnerungen an die Weimarer Republik: Wirtschaftskrise, soziale Apathie und ein Sündenbock, um das Volk zusammenzuschmelzen - all das ist auch heute wieder vorhanden.
In diesem Beitrag geht es mir nicht um eine Analyse der politischen Implikationen der gegenwärtigen Situation der Juden in Rußland. Mein Anliegen besteht einzig und allein darin, im Westen auf diese Situation aufmerksam zu machen und auf diese Weise einzugehen auf die verzweifelten Appelle meiner von panischer Angst verfolgten Freunde, die entweder nicht auswandern können oder nicht auswandern wollen.
Am 31. Januar, dem Tag meiner Abreise nach England, ging ich noch einmal auf den Puschkin-Platz, um mich von diesem Ort, der mir so lieb geworden war, zu verabschieden. In der Mitte des Platzes, genau gegenüber von den langen Schlangen vor dem neu eröffneten Schnellrestaurant von McDonald's, stand eine Gruppe von vielleicht fünfzig oder sechzig Menschen um einen kleinen, rotbärtigen Mann herum und hörte ihm aufmerksam zu. „Juden sind keine Menschen“, schrie er mit hysterischer Stimme und aus vollem Halse. „Sie sind der Meinung, daß nur ihr Pasternak und ihr Mandelstam gute Schriftsteller sind. Und was ist mit unseren wahren russischen Schriftstellern? Sie erkennen sie nicht an! Nieder mit den Juden!“ Die Menge hörte mit finsteren Gesichtern zu. In vielen Augen sah ich den Ausdruck eines militanten Trotzes, der mir einen Schauer über den Rücken jagte.
Das gleiche Gefühl hatte ich ein paar Wochen später, als ich ganz zufällig in der kleinen Moskauer Zeitung 'Energetik‘ auf ein Dokument stieß, das hochtrabend als Wahlprogramm der Russischen Patriotischen Front Pamjat überschrieben war. Es waren besonders die folgenden beiden Sätze, die mich dabei „faszinierten“: „Juden und ihren Angehörigen (!) sollen alle Arten von Regierungsämtern verschlossen sein; Juden und ihre Angehörigen sollen nicht länger das Recht haben, Dissertationen anzufertigen und wissenschaftliche Berufe auszuüben.“
Armer Einstein! Wenn er heute in Rußland leben würde, dann hätte die Welt nie von seiner Relativitätstheorie erfahren. Gottseidank wurde dieses eindeutig faschistische Programm in der 'Energetik‘ veröffentlicht und nicht in der 'Prawda‘ oder 'Iswestija‘.
Aber wer garantiert uns, daß es nicht morgen schon dort erscheinen wird? Ich kann es nicht. Können Sie es?
Übersetzung: Hans Harbort
Aus: 'The Guardian‘
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