: Russen stehen kurz vor Grosny
Während föderale Truppen auf Grosny marschieren, töten Tschetschenen in den „befreiten Gebieten“ Landsleute, die mit dem Feind kollaboriert haben sollen ■ Von Barbara Kerneck
Moskau (taz) – In ihrem Bestreben, sich ganz Tschetschenien zu unterwerfen, mussten die russischen Truppen gestern Halt machen – teilweise nur drei bis sechs Kilometer von der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entfernt. Während sie vorrückten, war den Föderalen ihr sicheres Hinterland abhanden gekommen.
In der angeblich von Banditen und Terroristen „gesäuberten“, so genannten Sicherheitszone waren am Wochenende auf Seiten der tschetschenischen Partisanen kämpfende, mobile Einheiten auf getaucht. Sie unterziehen die dortigen Dörfer und deren Einwohner einer erneuten – nunmehr aber antirussischen – „Säuberung“. Bei einer Reihe von Terrorakten wurden BürgerInnen getötet, die sich bereit gezeigt hatten, mit den Föderalen zu „kollaborieren“. Das größte Ereignis dieser Art wurde aus dem Dorf Ramenskaja berichtet, wo an einem Tage 40 Menschen erschossen wurden. Die Exekution erfolgte demonstrativ, nur wenige Stunden, nachdem Dorf und Umgebung von einer russischen Unterabteilung kontrolliert worden waren.
Nach Informationen der Tageszeitung Segodnja wurden auch der Feldkommandeur Schamil Labasanow und seine Gefolgsleute erschossen – zwei Stunden, nachdem Labasanow mit russischen Generälen ein Friedensabkommen geschlossen hatte. Dieselbe Zeitung meldet, dass nach Aussagen von Überlebenden die Exekutionen von kleinen Gruppen ausgeführt werden. Diese bestehen aus Personen mit hellem Teint und slawischen Zügen, gekleidet in russische Uniformen und mit russischen Waffen ausgerüstet.
Aus ganz Russland rücken hastig Einheiten der militärischen Gegegenspionage sowie Omon- und SOBR-Anti-Terror-Einheiten der Miliz in die drei besetzten tschetschenischen Provinzen nach. Doch bisher ist es noch nicht gelungen, die Ruhe dort wiederherzustellen. Ohne Kontrolle über das eigene Hinterland können die föderalen Armee-Einheiten es nicht riskieren, sich über die verminten Straßen einen Weg nach Grosny zu bahnen, wo sie schwerste Kämpfe erwarten.
Die Bevölkerung in der so genannten Sicherheitszone hat praktisch nicht mehr die Wahl zwischen Leben und Sterben. Sie kann nur noch wählen, ob sie von den Russen wegen Zusammenarbeit mit den tschetschenischen Bandenformationen oder von diesen wegen Kollobaration mit den Föderalen ausradiert wird. Kein Wunder, dass die Flüchtlinge in Inguschetien und anderen Nachbarländern daher der Aufforderung der russischen Regierung keine Folge leisten, in ihre angeblich befreite Heimat zurückzukehren.
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