: Rumäniens Armee schoß in die Menge
■ Nach Demonstrationen für einen evangelischen Pastor fuhren in Temeswar die Panzer auf / Angeblich zahlreiche Tote und Verletzte / Grenzen zu Ungarn und Jugoslawien für Ausländer gesperrt / Für die rumänische Armee wurde die höchste Alarmstufe ausgerufen
Berlin (taz) - Einheiten der rumänischen Armee haben am Montag morgen die Stadt Temeswar unweit der Grenze zu Jugoslawien umstellt. Nach Augenzeugenberichten wird seit Sonntag mittag scharf geschossen. Ein Gewährsmann sprach von 300 bis 400 Menschen, die von den Sicherheitskräften ermordet wurden. „Es wurde in die Menge geschossen. Es gab 300-400 tote Demonstranten. Ich habe die toten Menschen gesehen. Ich stand neben ihnen, sie haben sie erschossen“, sagte der Gewährsmann wörtlich gegenüber dem deutsch -rumänischen Schriftsteller William Totok. Ein österreichischer Reisender dagegen will zwar zahlreiche Verletzte, aber lediglich einen Toten gesehen haben. Panzer und andere Militärfahrzeuge sind diesen Berichten zufolge in der mit 350.000 Einwohnern viertgrößten rumänischen Stadt aufgefahren. Zugleich riegelten die rumänischen Behörden die Grenzen zu Ungarn und Jugoslawien für Ausländer ab. Auch in der Stadt Arad an der Grenze zu Ungarn soll es zu Demonstrationen gekommen sein.
Die Demonstrationen in Temeswar hatten am Samstag als Protest gegen die Festnahme des als Bürgerrechtler bekannten evangelisch-reformierten Pfarrers Laszlo Toekes begonnen, der sich in seiner Kirche verschanzt hatte. Die Demonstranten wollten offenbar den Pastor vor der Sicherheitspolizei abschirmen. Der ungarische Rundfunk berichtete, die zumeist jugendlichen Demonstranten hätten Parolen gegen Ceausescu skandiert, Porträts und Bücher des „Conducators“ verbrannt, Autos in Brand gesetzt und Schaufensterscheiben eingeworfen. Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten sowie Polizei mit Panzerfahrzeugen seien gegen die Demonstranten vorgegangen und hätten schon zu diesem Zeitpunkt viele Menschen verletzt. Doch die Demonstrationen gingen weiter. Am Sonntag seien dann schon über 10.000 auf der Straße gewesen, als der Schießbefehl gegeben wurde. Auch am Montag sollen nach Angaben des ungarischen Fernsehens wieder über 10.000 Menschen auf der Straße gewesen sein.
Verantwortlich für den Schießbefehl sind nach Informationen von Gewährsleuten der taz der erst kürzlich eingesetzte Kreissekretär Radu Balan und sein Vorgänger Iliae Matei. Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu ist zu einem Staatsbesuch nach Teheran abgereist. Für die Armee ist diesen Informationen zufolge im ganzen Land die höchste Alarmstufe 0 verhängt worden.
Am Montag wurde die rumänisch-ungarische Grenze faktisch abgeriegelt. Die ungarischen Reisenden im Orientexpreß wurden von rumänischen Grenzbeamten aus dem Zug geholt und aufgefordert, nach Ungarn zurückzukehren, meldete die ungarische Nachrichtenagentur 'mti‘. Bereits am Sonntag war die Grenze auf rumänischer Seite nach Berichten eines ungarischen Fernsehreporters gegenüber dem Grenzposten Nagylak geschlossen worden. Jugoslawische Grenztruppen berichteten, nur noch offizieller Verkehr - Lastwagen mit allen Papieren - dürfe die Grenze passieren. Seit Montag morgen sei der Privatverkehr völlig zum Erliegen gekommen. Ungarische Grenzsoldaten berichteten, daß nur noch 20 Prozent des üblichen Verkehrs über die Grenze komme. Ungarns Ministerpräsident Nemeth erklärte auf einer Pressekonferenz mit Kohl in Budapest, in Europa dürfe es „keine politischen gesellschaftlichen Systeme mit anachronistischen Merkmalen mehr geben“. Siehe auch Seite 6
Kommentar auf Seite 8
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen