: Ruhe in der Stunde aller Gefahren
Das Freitagsgebet in Algier ist unter massiver Militärpräsenz ohne die befürchteten Zwischenfälle und Provokationen zu Ende gegangen/ Die FIS vermeidet vorerst jede Konfrontation ■ Von Oliver Fahrni
„Allah-u-akbar. Hyya-arlar-salate.“ Das Freitagsgebet in Algier galt seit dem kalten Staatsstreich der Militärjunta vom Wochenende als die Stunde aller Gefahren. Abdelkadr Hashani, der Chef der Islamischen Heilsfront (FIS), sollte in der Es-Sunna-Moschee von Bab-el- Oued sprechen. Es ist die Hausmoschee von Aliu Ben Hadsch, dem inhaftierten Lieblingsprediger der algerischen Massen.
Bei Tagesanbruch fanden sich die Bewohner Bab-el-Oueds von General Khaled Nezzars Truppen umzingelt. Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett vor Straßensperren, die Blauhelme des Innnenministeriums mit Schnellfeuergewehren und schweren MGs gleich dahinter. In der Nacht hatten Soldaten einige Dutzend Islamisten aus den Betten geholt und an einen unbekannten Ort geführt. Wer aus Belcourt, El-Harrach oder dem Climat de France zur Es-Sunna-Moschee wollte, wurde an den Straßensperren zurückgeschickt. Doch die Islamisten vermeiden vorerst Konfrontation. Seit einer Woche unternehmen sie alles, ihre Basis ruhigzustellen. Hashani hat Zeit. Er stützt sich auf die frische Legitimation als Wahlsieger. Hashani hat die Ruhe, die Khaled Nezzar abgeht. „Das Problem der Junta“, sagte FIS-Kader Scheikh Ahmed, „ist simpel: Kann sie dem algerischen Volk in drei oder vier Wochen Brot und eine menschenwürdige Existenz verschaffen? Die Antwort ist klar. Die Preise steigen und die Löhne sinken. Nezzar ist im Würgegriff des IWF.“ Nezzar ließ am Mittwoch aus Marokko den algerischen Befreiungshelden Mohammed Boudiaf einfliegen. Boudiaf, 72, der heroische Vormann der Nationalen Befreiungsfront (FLN-Karte Nr. 001), hatte auf zwei Geheimtrips seine Rückkehr ausgehandelt. Nezzar machte ihn zum Interimspräsidenten. Boudiaf steht zugleich dem Hohen Staatskomitee vor.
Doch in Algerien haben die Helden eine kurze Halbwertzeit. Als der FLN-Gründer in einer Präsidentenmaschine einschwebte, waren, großzügig gerechnet, ein paar hundert Menschen gekommen — in der Hauptsache alte Männer, Journalisten und Geheimpolizisten.
„Algerien steht am Abgrund“, sagte Boudiaf in seinem ersten TV- Auftritt. Dann attackierte er die islamistischen Wahlsieger von der FIS: „Niemand darf sich der Religion bedienen, um Politik zu machen. Das Volk muß erst noch lernen, die wirkliche Demokratie zu erkennen.“
Der Auftritt offenbarte ein tiefes Mißverständnis: Die islamische Heilsfront zieht ihre Legitimität nicht aus der Religion, sondern aus der radikalen Ablehnung einer Unrechts-Ordnung, die Boudiaf zu verteidigen sich nun anschickt.
Während der Interimspräsident sprach, trafen sich FIS, FLN und die sozialdemokratische FFS von Hocine Ait Ahmed über Kreuz zu Zweiergesprächen. Vorerst einigten sich die „3 Fronten“ auf eine gemeinsame Stellungnahme: Die Militärjunta Nezzars und das Hohe Staatskomitee, ließen sie wissen, sei „klar verfassungswidrig“. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner.
Die Generäle wissen, daß sie um die Islamisten als soziale Kraft nicht herumkommen. Eine starke Fraktion dieses militärisch-industriellen Komplexes hinter Nezzar aber macht sich dafür stark, vorerst die FIS zu zerschlagen. Ein solches Abenteuer könnte den ganzen Südrand des Mittelmeers in Brand setzen. Die andere Fraktion der Junta will Zeit gewinnen. Sie hoffen auf die Wirtschaftshilfe des „Zentrums“ — EG, Japan und USA. Kommt erst der Aufschwung, denken sie, verliere die FIS einen Großteil ihrer Protestwählerschaft. Dann könnten die Islamisten in eine Ordnung eingebunden werden, die in Algier als „franco- saudisch-amerikanisches Szenario“ kursiert: Ein islamisch-kapitalistischer Maghreb, in dem die Islamisten die moralische Ordnung und damit die Ruhigstellung des Volkes à la Saudi-Aarabien übernähmen.
Dafür müßten aber erst die radikal-revolutionären Kräfte in der FIS ausgeschaltet werden. „Nezzar“, sagt ein Fachmann im französischen Außenministerium, „braucht mindestens 18 Monate.“ So lange freilich hält die prekäre Lage nicht.
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