Rot-gelb-grüne Koalitionsverhandlungen: Mut zum Bruttoinlandsglück
Eine mitgehörte Feierrunde der Koalitionär:innen enthüllt, was den Erfolg der Gespräche ausmachte – und was sie für die nächsten vier Jahre planen.
V orbemerkung: Das folgende Gespräch wurde zufällig an einem verdeckten Nebentisch in Olaf Scholz’ Lieblingsrestaurant belauscht und mitprotokolliert. Das zukünftige Regierungskabinett feierte dort den Verhandlungsabschluss der Ampelkoalition.
Scholz: Ich hebe mein Glas auf euch alle und danke euch sehr für den erfolgreichen Abschluss unserer konstruktiven Gespräche! (Gläserklirren, Beifall, Jubel) Meiner Wahl zum Kanzler steht nun nichts mehr im Wege. Ich denke, entscheidend für den Erfolg war die doppelte Vertrauensbildung nach innen und außen. Nach innen haben wir Vertraulichkeit gewahrt. Nach außen signalisieren wir der Bevölkerung mit unseren Leitlinien, dass wir eine neue politische Kultur etablieren, die für mehr Resonanz zwischen Regierenden und Regierten sorgt. Und Lust auf Zukunft macht. Auf den Neustart im Neustaat.
Lindner: Es wird der erste Koalitionsvertrag in der Geschichte sein, der auf einen Bierdeckel passt.
Scholz: Christian, du übertreibst. Aber es stimmt schon: Unser Versprechen, zu allen wesentlichen Politikbereichen zufällig geloste Bürgerräte einzusetzen und deren ausgearbeitete Ratschläge zu befolgen, ist historisch einmalig. Das zeugt von neuem Respekt gegenüber dem Souverän.
ist freie Journalistin und Geburtshelferin für ökosoziale Geschichten des Gelingens.
Die fiktive Feier der Koalitionspartner:innen erfand sie zusammen mit Volker Hoff, Christian Küttner, Stephanie Ristig-Bresser und Lino Zeddies, die allesamt dem Autorenkooperativ „Utopistas“ angehören.
Lindner: Und erspart uns viel Steuergeld und Schreibkram beim Koalitionsvertrag. Als Bürgerrechtspartei mit einer langen stolzen Tradition setzen wir auf konsequente Entbürokratisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung. Wir setzen Task Forces für eine grundstürzende Steuerreform ein, denn die Steuern sollen vor allem in die Regionen fließen statt in den Bund. Städte und Kommunen bekommen neue Freiheiten zurück und entscheiden autonom, ob sie von den Steuergeldern Schulen oder Kliniken finanzieren wollen.
Habeck: Genauso stolz bin ich auf die Jugendräte und die neuen interdisziplinären Gremien, die in allen Ministerien an zentraler Stelle sitzen werden. Jugendliche können endlich mitreden bei einer Zukunftspolitik, die vor allem sie betrifft. Und interdisziplinäre Gremien machen ein neues Denken out of the box möglich. Von hier an anders! Auch die neue Fehlerkultur. Danke, Olaf, dass du dich öffentlich für die unzureichende Aufarbeitung des Cum-Ex- und Wirecard-Skandals entschuldigt hast. Danke, Annalena, für das Bekenntnis, die Copy-and-Paste-Tasten zu viel benutzt zu haben. Dass wir uns als fehlbare Menschen zeigen, schafft Vertrauen in der Bevölkerung.
Baerbock: Und ich bin besonders stolz auf das Herzstück unseres Vertrages: Klimaschutz als Priorität und Querschnittsaufgabe aller Ministerien. Wie ihr wisst, sitzt zukünftig eine Klima-Staatssekretärin in jedem Ministerium und in einem koordinierenden Klimarat im Kanzleramt. Alle Gesetze und Entscheidungen werden geprüft, ob sie mit dem 1,5-Grad-Ziel und den UN-Nachhaltigkeitszielen vereinbar sind.
Lindner: Ich finde es sehr clever, die Wirtschaftsförderung nun darauf auszurichten, ob sie regionale und lokale Resilienz fördert, Rohstoffe wie beim Urban Mining recycelt und CO2-lastige Transportwege überflüssig macht. Das spart dem Steuerzahler viel Geld. Und ist dringend nötig nach der pandemiebedingten Verödung der Innenstädte. Ebenso clever ist die vereinbarte Kürzung der Subventionen für fossile Energien – satte 50 Milliarden mehr im Staatssäckel. Mehr netto für brutto.
Baerbock: Willy Brandt hat den Satz geprägt: „Mehr Demokratie wagen.“ Ich sage: „Mehr Bruttoinlandsglück wagen.“
Lindner: Da kann ich voll mitgehen. Mehr ist immer gut.
Scholz: Ich sehe meine Rolle als Kanzler vor allem als eine moderierende. Sozial ist, was das Klima schützt, Arbeit schafft und Freiheit fördert. Eine neue politische Kultur bedeutet auch: Respekt füreinander, auch für die Diversität der Gesellschaft. Wir haben in unserem Kabinett so viele Frauen und Neudeutsche wie noch nie. Wusstet ihr, dass der Name Scholz auch migrantisch ist? Er kommt aus dem Schlesischen und bedeutet „Vorsteher der Dorfgemeinschaft“.
Schulze: Ha, dann bin auch ich eine Vorsteherin! Als neue Ministerin für menschen- und mitweltfreundliche Mobilität, kurz MMM, freue ich mich schon jetzt auf Dorfgemeinschaften, die per Öffi mit den Metropolen verbunden sind, leise abgasfreie Innenstädte, Autobahnen mit perspektivisch nur noch einem Fahrstreifen.
Baerbock: Und als Ministerin für Umwelt, Artenvielfalt und Landwirtschaft freue ich mich darauf, wieder mehr Vögel, Molche, Schmetterlinge, Gräser und Mikroben als Teil unserer Gesellschaft begrüßen zu dürfen. Eine Gesellschaft der Menschen allein ist nicht lebensfähig. In Anerkennung dieser Tatsache haben wir den Scholz’schen Respekt auf alle Lebewesen ausgeweitet und nehmen zukünftig eine fürsorgliche statt funktionale Haltung ihnen gegenüber ein. Das bedeutet unter anderem eine schrittweise Abschaffung von Massentierhaltung und riesigen Monokulturen zugunsten von regenerativer Landwirtschaft, die zudem enorm viel CO2 in den Boden zurückbringt.
Lindner (halblaut): Ach du Scheiße. Die Molch-Ministerin aus Bullerbü.
Scholz (rügend): Christian, worüber haben wir gerade geredet? Bitte bleibe respektvoll.
Lindner (beschwichtigend): Wir sind für die nächsten zehn Jahre die neue gelb-grüne Mitte, wir kämpfen nicht mehr gegeneinander. Die FDP befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Geschichte, sie hat das nicht mehr nötig.
Habeck: Ich vertraue Christian. Und deshalb haben wir auch vereinbart, dass wir nach zwei Jahren die Stellen tauschen. Dann werde ich Finanzminister und er Minister für Wirtschaft, Digitales und erneuerbare Energien.
Scholz: Gut finde ich auch unsere Vereinbarung, uns den Gang in überflüssige Fernseh-Talkshows künftig zu sparen. Auch das ist ein vernünftiges Sparprogramm.
Schulze: Dafür führen wir die Humorpflicht ein. Wer als Abgeordneter im Bundestag während der ganzen Legislaturperiode keinen Lacher zu verzeichnen hat, wird nicht mehr aufgestellt.
Lindner: Ich wusste es doch! Verbot der Humorlosigkeit! Die Verbotsparteien können es nicht lassen!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern