: Rohbilddeuters Geheimnisse
Studien zur Informationsgesellschaft: Mit dem Erzählband „Anrufung des Blinden Fisches“ nähert sich Georg Klein einer Literatur der neuen Empfindsamkeit ■ Von Kolja Mensing
Die Geschichte von Harm Jan Smitt, dem Rohbilddeuter, beginnt mit dem großen Bruch: Die mürbe gewordene Außenwand eines unterirdischen Abwasserkanals gibt nach, erst versinkt die darüberliegende Straße und dann ein ganzer Stadtteil in der Erde. Die zuständige Behörde stellt Smitt ein, der sich mit einer Teleskopspirale und einer daran angeschlossenen Kamera in sämtlichen Druckwasserkanälen der Stadt umsieht: „Die Videobilder zeigten den Querschnitt des Wasserrohres wie eine Himmelskuppel, wie einen Nachthimmel, den ein gigantisches Gewitter mit Blitzen durchtobt und so dem Dunkelblau des Firmaments mit unaufhörlichen Entladungen stets neue veilchen- und rosenfarbene Lichtgeburten abzwingt.“ Aus diesen Aufnahmen ermittelt Smitt die brüchigen Stellen im unterirdischen System der Kanäle – und entdeckt dabei ein Geheimnis. Die Behörde beschließt, den Rohbilddeuter auf einen für sie weniger bedrohlichen Posten zu versetzen. Doch Smitt kommt ihnen zuvor. Er verschwindet.
Harm Jan Smitt, der Rohbilddeuter, ist eine der Figuren aus Georg Kleins Erzählband „Anrufung des Blinden Fisches“. Man kann seine Geschichte zweimal oder dreimal lesen: Man wird nicht verstehen, warum die kleinen, kugelförmigen Gebilde, die der Rohbilddeuter in den Abwasserkanälen entdeckt hat, eine Gefahr für die städtische Abwasserbehörde bedeuten. Aber damit muss man sich abfinden: In jeder von Kleins Geschichten schwimmt ein kleines Geheimnis durch die sorgfältig angelegten narrativen Kanäle: mal an der Oberfläche der Erzählung, hell leuchtend, dann wieder unterirdisch, dunkel und verschwommen.
Georg Kleins Literatur gibt Rätsel auf. Als im vergangenen Jahr der Debütroman des heute 46-jährigen Schriftstellers erschien, wurde er sehr gelobt, doch so recht wusste eigentlich keiner der Rezensenten zu sagen, worum es eigentlich ging. Am ehesten konnte man sich noch darauf einigen, dass „Libidissi“ eine Art Agententhriller war, der in einer nicht näher bestimmten Stadt und einer nicht näher bestimmten Zukunft spielte – mit einem ausgebrannten Spion im Mittelpunkt, der am Ausgang einer Rohrpostanlage sehnsüchtig auf Nachrichten wartete.
Man darf vermuten, dass die Geschichten in der „Anrufung des Blinden Fisches“ zum größten Teil vor der Veröffentlichung von „Libidissi“ entstanden sind. Sie lesen sich zum Teil wie Vorstudien. Es geht um Maschinen, Texte, Energieflüsse und Kanäle – die Rohrpostanlage, erfahren wir jetzt, ist nur eine von vielen Metaphern. „Smitt“ erzählt von der Grammatik der Abwasserleitungen, „Vortex & Ming“ von einem EDV-Archivar, der einem Großcomputer Daten entlocken soll, und man begegnet streng hierarchisch organisierten Agenturen, die mit „Info-Design und Info-Management“ beschäftigt sind und nichts weiter tun, als Zeichenfolgen zu produzieren: Willkommen in der Matrix.
Die bröckligen Maschinenkulissen, die Verfallsszenarien und reinen Männerwelten könnten gut zu kühler Sciencefiction passen. Doch Georg Klein, und gerade darum kann man seine Geschichten nicht aus der Hand legen, schreibt altmodisch, warm und poetisch. Seine Grammatik mit ihren Imperfekten und Konjunktiven hat er aus alten Büchern, seine Lieblingsmaschine ist der Mensch: „Wir sind die Schnittzone, die man im altertümelnden Jargon sensibel nennt. Wir wissen das. Wir sind empfindlich und sublim zugleich“, beginnt „Smitt“, und die zwölf Geschichten des Erzählbandes sind auch gleich in drei große Abschnitte unterteilt: „Membran“, „Schnittstelle“ und „Geschlecht“.
Alle Figuren beherrscht das Verlangen nach wärmenden Übergängen, doch treffen sie tatsächlich aufeinander, tut es weh: zum Beispiel „wenn gleichzeitig die Münder zweier Texter aufeinanderstürzen, wenn die Gebisse klackernd ineinanderschlagen und beide Zungen, am fremden Gaumen schnalzend, um eine Achse kreisen“.
Das ist zärtlich und grausam zugleich, ein Ton, über den man sich während der Lektüre des Romandebüts noch sehr gewundert hatte. Mit den Erzählungen – die leider viel zu oft am konkreten Ort „Berlin“ oder gar an der „Hauptstadt“ haften – wird das Bild dichter: Georg Klein arbeitet an einer Literatur der neuen Empfindsamkeit. Er will von den Gefühlen erzählen, die aus den Schnittstellen der so genannten Informationsgesellschaft hervorsickern. Er sucht zwischen den elektrifizierten Zeichenfolgen und digitalisierten Leerstellen wie Harm Jan Smitt auf seinen flackernden Videobildern nach Bruchstellen – um dort vielleicht die Anfänge eines neuen sentimentalen Codes aufzuspüren.
In fast jeder einzelnen Erzählung klingt diese Suche an, abgeschlossen ist sie in keiner. „Die Anrufung des Blinden Fisches“ enthält darum mehr noch als „Libidissi“ eine große Ankündigung. Man wartet jetzt sehr auf den zweiten Roman.
Georg Klein: „Anrufung des Blinden Fisches“. Alexander Fest 1999. 197 Seiten. 36 DM
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