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Richter deckten Verfassungsschutz

■ Schmücker-Prozeß: Geheime Unterlagen des Berliner VS belegen, daß auch Richter entscheidendes Beweismaterial unterdrückten/ Alternative Liste geht damit an die Öffentlichkeit

Berlin (taz) — Die Realität übertrifft manchmal die schlimmsten Befürchtungen. Im bisher längsten und skandalträchtigsten Strafverfahren der Bundesrepublik, dem sogenannten „Schmücker-Prozeß“, haben nicht nur — wie bisher vermutet — die Staatsanwälte, sondern auch die Richter entscheidendes Beweismaterial unterdrückt. Belegt wird dies nun eindeutig durch bislang geheime Unterlagen des Berliner Verfassungsschutzes, die gestern das Mitglied des parlamentarischen Prüfungsausschusses in Berlin, Lena Schraut (Alternative Liste/Grüne), der Öffentlichkeit vorlegte.

Der dreiseitige Vermerk des Verfassungsschutzes wurde am 29. Oktober nach langem Drängen der AL von Innensenator Pätzold (SPD) freigegeben. Verfaßt wurde er vom V-Mann-Führer Grünhagen am 15. Dezember 1978 und belegt mit bemerkenswerter Offenheit, wie Richter und Staatsanwälte im zweiten Durchgang des Gerichtsverfahrens um die Ermordung des 22jährigen Ulrich Schmücker am 4. Juni 1974 Absprachen trafen, um die Verwicklungen des Berliner Landesamtes in den Fememord zu vertuschen.

Staatsanwalt Wolfgang Müllenbrock, der es später bis zum Staatssekretär brachte, unterrichtete dem Vermerk zufolge am 14. Dezember 1978 den VS-Mann Grünhagen über ein Gespräch mit dem zuständigen Vorsitzenden Richter des Moabiter Kammerggerichtes, Fitzner, und dem Ersatzrichter Bartheldes. Bartheldes, erklärte Müllenbrock, sei vor Wochen vom Gerichtsvorsitzenden beauftragt worden, „inoffiziell“ herauszufinden, was in der Akte über den Informanten Weingraber stünde, die dem Gericht nicht zugänglich sei. Volker Weingraber stand damals bei den Verteidigern des Schmücker-Verfahrens in dem Verdacht, für den Berliner Verfassungschutz als Informant zu arbeiten. Auf seiner Schreibmaschine war nicht nur das Bekennerschreiben zur Ermordung Schmückers getippt worden, er stellte dem Beschuldigten sein Fahrzeug zur Verfügung und nahm im Anschluß an den Mord auch die mutmaßliche Tatwaffe vom dem Tatverdächtigten entgegen.

Bei einer Geburtstagsfeier in den P-Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft wurde Bartheldes schließlich fündig. Nach Rückfragen, bei Oberstaatsanwalt Nagel stellten die Ankläger Kienbaum und Priesdorf dem Besucher die Akte über den V-Mann zur Verfügung. Darin enthalten war auch ein Schreiben, in dem ein anonymer Verfasser bereits im März 1975 der Berliner CDU den begründeten Verdacht mitteilte, daß Weingraber ein Mitarbeiter des Landesamtes sei. Die Staatsanwälte trichterten dem Ersatzrichter ein, „daß die Akte auf keinen Fall offengelegt werden dürfe“. Bartheldes sah sich anschließend verpflichtet, den Gerichtsvorsitzenden Fitzner und die Beisitzer Handke und Weiss „inoffiziell und informell zu unterrichten“. Staatsanwalt Müllenbrock konnte den V-Mann-Führer Grünhagen aber beruhigen: Er habe den Gerichtsvorsitzenden „eindringlich“ gebeten, „die ganze Angelegenheit im Interesse der Sicherheit dieser Person zu vergessen“. Fitzner habe zugesichert, daß „er an dieser Sache nicht mehr rühren werde“. Die anderen drei Richter wären ebenso „zuverlässig“ — Geschworene und Schöffen hätten „von dem Vorfall keine Kenntnis erhalten“.

Belegt wird mit dem Vermerk aber auch die Steuerung des Schmückerprozesses durch den Verfassungsschutz. Grünhagen legte schriftlich auch nieder, daß er vom Staatsanwalt Müllenbrock einen Beweisantrag der Verteidigung erhalten habe, die darin nachweisen wollte, daß sich das Mordopfer Schmücker noch am Tattag mit Mitarbeitern des Verfassungsschutzes getroffen hätte. In diesem Zusammenhang sei der Zeuge Peter Rühl geladen. „Rühl“ war der Deckname von Grünhagen.

Für Al-Mitglied Lena Schraut haben sich die Richter der Strafvereitelung schuldig gemacht. Rechtsstaatliche Prinzipien seien durch sie und die sie deckenden verantwortlichen Justizsenatoren „gröblich verletzt“ worden. Der Staat habe damit seinen Strafanspruch verwirkt. Sie forderte umgehend den Schmücker-Prozeß einzustellen. Zur Verquickung von Gerichten und Justiz erklärten gestern zwei der Verteidiger im Schmücker-Prozeß, „unsere Fantasie wird durch die Realität übertroffen“. Wolfgang Gast

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