piwik no script img

Rheinvergiftung: Ein grenzenloser „Störfall“

■ Zwei Wochen nach der Verseuchung des Rheins durch die Schweizer Firma Sandoz haben Wissenschaftler/innen des Freiburger Öko–Instituts eine „erste Bestandsaufnahme“ vorgelegt. Sie weisen darin u.a. nach, daß das Sandoz–Lager - stünde es in der Bundesrepublik - nicht unter die Störfallverordnung gefallen wäre. Der Grund: die unmittelbare Gesetzeslage für die Lagerung gefährlicher Chemikalien / Die taz dokumentiert Auszüge des Freiburger Papiers

In diesem Jahr standen die Gefahren der Atomenergie im Zentrum der öffentlichen Diskussion. Die Chemiekatastrophe von Basel zeigt in ihren Auswirkungen erneut, daß die durch die Chemieindustrie drohenden Gefahren und Schäden ähnliche Dimensionen erreichen. Die Belastung Tausender von Menschen mit giftigen Brandgasen, die Zerstörung des Ökosystems des Rheins auf voraussichtlich Jahre und die Gefährdung der Trinkwasserversorgung von Millionen von Menschen, die in ihrer Tragweite derzeit noch nicht abschätzbar ist, müssen Anlaß für konsequente Vorsorgemaßnahmen auch in der Bundesrepublik sein. Aus dem Brand in der Lagerhalle lassen sich folgende Versäumnisse der Firma Sandoz ableiten. - Durch die Lagerung großer Mengen verschiedener hochgiftiger Stoffe in einer Lagerhalle wurde ein unnötig großes Gefahrenpotential geschaffen. - Die baulichen Brandschutzmaßnahmen, wie beispielsweise Abschottung, waren offensichtlich vollkommen unzureichend. Gefördert durch die gute Brennbarkeit einzelner Chemikalien konnte sich das Feuer offensichtlich ungehindert ausbreiten. - Löschvorrichtungen und Brandmelder waren ebenfalls nicht oder nicht ausreichend vorhanden. Bei einem derartigen Gefahrenpotential wären automatisch entsprechende Löschvorrichtungen notwendig gewesen. Zudem waren keine Vorrichtungen vorhanden, die das verseuchte Löschwasser auffangen konnten. Wäre dieses über eine Kläranlage gelaufen, hätte das Löschwasser zwar gereinigt, aber eventuell zurückgehalten werden können. Letzteres hätte auch durch ein vorhandenes Rückhaltebecken erreicht werden können. Das verseuchte Löschwasser wurde somit aufgrund der oben beispielhaft angeführten Versäumnisse zur Ursache der katastrophalen Rheinverschmutzung. Weitestgehend im Dunkeln liegt das Ausmaß der gesundheitlichen Gefährdung der Anwohner durch Brandgase und -stäube. Einmal mehr zeigte sich, daß den Behörden für akut auftretende unbekannte Schadstoffgemische in der Luft keine ausreichenden apparativen Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Auch von wissenschaftlicher Seite gibt es hier ernste methodische Probleme. Offensichtlich ist aber der Rückschluß, daß das, was nicht gemessen wird, auch nicht vorhanden ist und somit keine Gefahr darstellt, unzulässig und falsch. Auch Dioxine freigesetzt? Nach verschiedenen Berichten sollen in der Lagerhalle auch chlororganische Verbindungen vorhanden gewesen sein, so daß Dioxine und Furane entstanden sein könnten. Ebenfalls unklar ist die Belastung der Umgebung mit Quecksilber. Daß ein zweites Mal verseuchtes Wasser in den Rhein gelangen konnte, zeigt erneut die Verantwortungslosigkeit der Betreiber und Unfähigkeit der Behörden. Sie müssen sich vorwerfen lassen, den Brandort nicht ausreichend inspiziert und die zweite Giftwelle nicht verhindert zu haben. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) lehnte in einer ersten Stellungnahme (FAZ 10.11.86) Gesetzesänderungen aufgrund der Katastrophe ab. Die Stellungnahme gipfelte in der zynischen Feststellung, daß es im Leben immer ein Risiko gäbe. Der „liebe Fluß“ (VCI–Anzeige) und die Betroffenen werden sich bedanken. Umweltminister Wallmann forderte lediglich eine Verbesserung der Informations– und Alarmsysteme zwischen den europäischen Ländern, die - falls sie tatsächlich verwirklicht werden - eine Katastrophe nicht verhindern können, allenfalls die Folgen mindern. Wie unzureichend die Gesetzeslage in der BRD ist, beweist ein Blick in die Störfallverordnung. Diese VO stellt das entscheidende staatliche Regelwerk für die Sicherheit von Chemieanlagen dar. Dort werden die Sicherheitspflichten für die Betreiber, die Anforderungen zur Verhinderung von Störfällen und zur Begrenzung von deren Auswirkungen geregelt. Zwar wäre die Sandoz–Lagerhalle in Basel unter das Bundesimmissionsschutzgesetz gefallen, jedoch wäre die Anlage in der BRD trotz der hochgiftigen Stoffe, nicht unter die Störfall–Verordnung gefallen, da im Anhang I der Störfall–Verordnung Lager als unter den Geltungsbereich fallende Anlagen nicht aufgeführt sind!! Zum Schutz vor derartigen Chemiekatastrophen muß ein kurzfristig funktionsfähiges gesetzliches Instrumentarium geschaffen werden, das die Behörden in die Lage versetzt, durch entsprechende Auflagen die Risiken zu minimieren. Dazu gehört auch, daß eine umfassende Übersicht über die Gefahrenpotentiale chemischer Anlagen in der Bundesrepublik beziehungsweise an deren Grenzen gewonnen wird. Dazu ist eine Bestandsaufnahme und Verknüpfung aus den verstreuten Daten in verschiedenen Behörden notwendig (soweit sie überhaupt vorliegen). Lagerproblematik unzureichend geklärt Die Gesetzeslage in der Bundesrepublik ist - gerade im Hinblick auf die Lagerung gefährlicher Chemikalien - höchst unbefriedigend. Dabei führen gerade Störfälle in Lagern und Brände immer wieder zu Katastrophen mit hohen Umweltbelastungen. Beispiele sind der Brand durch Selbstentzündung in einer Lagerhalle der BASF 1979, der Großbrand im Hamburger Hafen 1985, der Brand in einem Lager in Rösrath 1985 usw. Die Lagerproblematik wird vom Gesetz nur äußerst unzureichend erfaßt, denn ein Lager bedarf keiner Genehmigung nach Bundesimmissionsschutzgesetz, es sei denn, es stünde in engem Zusammenhang mit einer anderen Anlage, die genehmigungspflichtig ist. Genehmigungspflichtig ist lediglich die Lagerung brennbarer Gase, Mineralöl, Acrylnitril, Chlor, Schwefeldioxid, flüssiger Sauerstoff, Ammoniumnitrat, Natriumchlorat und Pflanzenschutzmittel ab bestimmter Lagermengen. Teilweise ist für derartige Lager nur ein vereinfachtes Verfahren erforderlich, also ein Verfahren ohne Beteiligung der Öffentlichkeit und somit auch ohne öffentliche Kontrolle. Der BRD muß in der Chemiepolitik aufgrund der Chemiedichte in der Bundesrepublik und die starke Stellung der heimischen Chemieindustrie eine Vorreiterrolle zukommen. Anders werden - da Kompetenzen zunehmend nach Brüssel verlagert werden und Entscheidungen über Gesetze EG– weit getroffen werden müssen - Verbesserungen nicht zu erreichen sein. Auch Nachbarländer wie die Schweiz werden sonst wohl kaum zu Änderungen bereit sein. Eine unmittelbare Konsequenz muß die Überprüfung aller chemischen Betriebe im Hinblick auf eine Wassergefährdung bei Bränden und anderen Störfällen sein. Falls notwendig sind die erforderlichen Auflagen sofort vollziehbar anzuordnen. Der Begriff „Chemische Betriebe“ ist in diesem Fall auf alle Betriebe anzuwenden, die größere Mengen gefährlicher Chemikalien lagern oder verarbeiten. Einige der Chemischen Verbindungen, die nach Aussage der Firma Sandoz durch das Löschwasser in den Rhein gelangt sind, gehören zur Stoffgruppe der Phosphorsäureester. Weiterhin sind eine quecksilberorganische Ver bindung und ein Harnstoffderivat eingespült worden. Organische Phosphorsäureester: Die organischen Phosphorsäureester sind Insektizide von hoher akuter Toxizität. Die Wirksamkeit der organischen Phosphorsäureester als Insektizide wurde in den dreißiger Jahren erkannt. Die Verbindungen, die unter den Namen Tabun, Sarin und Soman als Nervenkampfstoffe bekannt sind, sind ebenfalls organische Phosphorsäureester. Die Vergiftungssymptome, die durch organische Phosphorsäureester beim Menschen auftreten, sind von Unfällen beim Umgang mit Insektiziden oder mit den hergestellten Kampfstoffen bekannt. Die meisten Insektizide und alle Kampfstoffe können die Haut durchdringen und so in die Blutbahn kommen. Eine Aufnahme mit der Nahrung ist ebenso möglich wie das Einatmen der Stoffe. Organophosphate schädigen Herz, Lunge und den Magen– Darm–Trakt, ebenso auch das Nervensystem. Durch die Phosphorsäureester wird die natürliche Übertragung von Nervenimpulsen gestört, da das Enzym Acetylcholinesterase gehemmt wird. Dadurch kommt es zu einer fortwährenden Reizung, die unkontrollierte Organreaktionen auslösen und zum Tode führen kann. Die Verbindungen können die Blut–Hirn–Schranke überwinden und somit auch die Acetylcholinesterase im Gehirn hemmen. Organische Quecksilberverbindungen: In der Halle sollen zwölf Tonnen Ethoxyethyl– quecksilberhydroxid gelagert haben, und es wird davon gesprochen, daß 200 Kilogramm in den Rhein gespült wurden. Die Frage nach dem Verbleib der restlichen Menge ist nach wie vor ungeklärt. Organische Quecksilberverbindungen werden als Bakterizide und Fungizide vor allem als Saatbeizmittel verwendet. In der BRD und der Schweiz sind sie inzwischen nicht mehr zugelassen. Mit gebeiztem Saatgut vergifteten sich vor einigen Jahren im Irak 6.000 Menschen, von denen 500 starben, die versehentlich zur Aussaat bestimmtes gebeiztes Getreide gegessen hatten. Quecksilber und seine Verbindungen hemmen Enzyme und stören somit den Stoffwechsel empfindlich. Die Vergiftung durch organische Quecksilberverbindungen ist durch Reizerscheinungen des zentralen Nervensystems gekennzeichnet. Quecksilber ist als Schwermetall nicht abbaubar und hat von da her eine erhebliche ökologische Bedeutung erlangt. Auch organische Quecksilberverbindungen sind z.T. in der Umwelt sehr beständig. Gelangt anorganisches Quecksilber in Flüsse oder Seen, oder bleibt das anorganische Quecksilber beim Abbau des organischen Restes einer organischen Quecksilberverbindung zurück, so wird es durch Bakterien im Schlamm dieser Gewässer in die organische Verbindung Methylquecksilber überführt. Diese Verbindung wird im Fettgewebe gespeichert. Auf diese Weise kann es sich in Plankton, Krebsen, Muscheln, Fischen und schließlich im Menschen stark anreichern. Harnstoffderivate: Harnstoffderivate werden als Herbizide eingesetzt, wirken also giftig auf Pflanzen, bei denen die Photosynthese gestört wird. Durch die in den Rhein eingetragenen Chemikalien wurden also sowohl Bakterien, Pilze, Pflanzen, Kleintiere und Fische abgetötet oder schwer geschädigt. Die Bakterien und Algen haben einen schnelleren Regenerationszyklus und können sich durch die Einschwemmung über Rhein–Zuläufe rasch wieder ansiedeln. Kleinlebewesen wie Insektenlarven, Wasserflöhe, Kleinkrebse und Muscheln werden vermutlich bis zu zwei Jahre brauchen, um ihre ursprüngliche Population wieder zu erreichen. Als letzte in der Nahrungskette sind die Fische besonders betroffen. Von Fisch– Sachverständigen wird erwartet, daß die Regeneration der Aal–Population sieben bis acht Jahre dauern wird. Besonders bedenklich ist die Abtötung der Lebewesen in den Altarmen des Rheins. Sie stellen die Kinderstube der Fische dar und die Fließgeschwindigkeit ist wesentlich geringer als im Hauptstrom, so daß die Einwirkzeiten der Gifte wesentlich länger waren bzw. sind. Die ökologischen Konsequenzen der Katastrophe lassen sich in ihrer Vollständigkeit noch nicht abschätzen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen