: Retten, was noch da ist, heißt die Devise
■ Neue Themen in der kulturellen Diskussion lassen erkennen, daß die Sowjetunion an der Schwelle zu einer neuen Epoche steht Auf dem Hintergrund der sowjetischen Geschichte wird die Radikalität des Wandels deutlich - Teil II
Von Erhard Stölting
Berlin (taz) - Einer der Teilnehmer verglich die Bedeutung dieses achten Schriftstellerkongresses mit der des ersten von 1934. Das war nicht unzweideutig. Denn damals wurde die Formierung der stalinistischen Kultur endgültig abgesegnet, die 1928 mit der Forderung der Regisseure Eisenstein, Pudowkin, Kosinzew, Trauberg u.a. nach einer „harten ideologischen Diktatur über den Film“ und den Aktivitäten der „Proletarischen Schriftsteller“ (RAPP) begonnen hatte. 1934 wurde der sozialistische Realismus offiziell zur Norm des Kulturschaffens deklariert. Von da an herrschte kultureller Winter, der durch den spezifisch stalinistischen Terror verschärft wurde. Das „Tauwetter“, das nach Stalins Tod einsetzte und neue Hoffnungen weckte, entpuppte sich dann doch nur als anhaltend naßkaltes Matschwetter. Die Frage ist nun, ob das, was sich gegenwärtig tut, nur ein vorübergehendes Zwischenhoch ist. Dagegen sprechen drei neue Entwicklungen in der sowjetischen Kultur: das Aufgreifen der Umweltthematik, eine neue Sensibilität für das alte Rußland und die risikoreiche Neuthematisierung der sowjetischen Geschichte. Zwar hatte es bisher schon eine russische Tradition romantischen Naturgefühls gegeben. Dieses Gefühl verband sich immer mit dem Eindruck unermeßlicher Weite. Es mußte daher der Verherrlichung des industriellen Aufbaus, der ausdrücklich als Kampf gegen die Natur geschildert wurde, nicht widersprechen. Jetzt aber hat die Zerstörung solche Ausmaße angenommen, daß sich der Horizont verengt hat: Es geht um die Rettung dessen, was noch da ist. Selbst Tschernobyl gewinnt da eine emblematische Qualität: Der todesmutige Heroismus bei der Bekämpfung des Brandes, den die Militärs gepriesen wissen wollen, öffnet eine andere geschichtliche Perspektive als jener der Komsomolbrigaden, die sich einst aufmachten, um Eisenbahnlinien, Kraftwerke und Fabriken zu errichten. Statt um eine lichte Zukunft geht es um die Eindämmung technischer Katastrophen. Die neue Haltung von Bewahrung und Rettung richtet sich auch auf die vorrevolutionäre Geschichte. Sie findet sich gerade bei jenen, die wegen der Naturzerstörung alarmiert sind - bei Salygin, Rasputin, Wosnessenskij und vielen anderen. Sie beklagen den ungehemmten Verfall oder die unbedenkende Zerstörung unschätzbarer Bauwerke, den noch immer existierenden Monumentalismus und die Machtlosigkeit gegenüber Abrißbirnen und Betonplanern. Schützenswert erscheinen nun bürgerliche Stadtbilder, Dorfformen, die bisher als Zeichen der Rückständigkeit galten, aber auch Kirchen und Klöster. Auch dieser Blick ist neu. Während nach 1917 fast alle Revolutionäre, einschließlich der später verdammten Avantgarde, unter Beseitigung von Rückständigkeit auch die Beseitigung ihrer materiellen Verkörperungen verstand, brachte die nationalistische Wende nur die Betonung des starken Staates. Stalin erschien als Vollender des Werkes, das Iwan der Schreckliche und Peter der Große begonnen hatten und das gerade in der gewaltsamen Überwindung von Tradition bestand. Die Zeichen für die neue Haltung sind unübersehbar und vielfältig. Im März etwa wurde eine Kulturstiftung geschaffen, die unter breiter Mitwirkung von Freizeithistorikern das noch rettbare kulturelle Erbe sichern soll. Wosnesenskij, der Vorsitzende der Stiftung, forderte gar eine wissenschaftliche Edition der Werke des Erzpriesters Awwakum aus dem 17. Jahrhundert. Und selbst die Topographie soll das alte Rußland wieder erkennbar machen. So werden in Moskau alte Bezeichnungen wiederbelebt. Die „Straße der Erbauer der Metro“ heißt jetzt wieder „Ostoschenka“ (Scheunenweg), und selbst die nach dem Klassiker Lermontow benannte Metrostation trägt nun den alten Namen des Ortes „Krasnyje Worota“ (Schöne Tore). Am Aufbaumythos wird gerüttelt Brisanter noch erscheint die Neuthematisierung der sowjetischen Geschichte. Durch Chruschtschow war Stalin zwar vom Sockel gestürzt worden. Aber zu seinen Verbrechen zählten nur jene, die er an seinen eigenen Anhängern verüben ließ - und einige „Übertreibungen“. Der Rest war Teil des sozialistischen Aufbaus und, soweit der nicht präsentabel war, tabu. Die nachstalinistische Repression hielt sich an diese Linie: Die wahllosen massenhaften Morde hörten auf. Wer sich „wohlverhielt“, hatte nichts zu befürchten; wer aufmuckte, mußte mit Gefängnis, Lager oder Irrenhaus rechnen. Der neuen Tendenz geht es um den sozialistischen Aufbaumythos seit 1929 und die wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die er zudeckte. Einige Wirtschaftsreformer hatten diese Strukturen bereits ausdrücklich als „Hemmnis“, als „nicht mehr zeitgemäß“ bezeichnet. Die kritischen Schriftsteller sind noch radikaler, auch wenn sie sich nicht für die ermordeten Bolschewiken Trotzki, Radek, Rykow, Bucharin usw. interessieren. Schon Ende letzten Jahres hatte der Lyriker Jewtuschenko die „ganze Wahrheit“ gefordert. Das war bereits ein Zeichen dafür, daß sie eine Chance hat. Denn dieser Lyriker engagiert sich stets dort, wo keine persönlichen Nachteile drohen. Tatsächlich wird jetzt berichtet, was vorher dem früheren Geschichtsmythos widerspricht. So erzählte der diesjährige Leninpreisträger, der 1924 geborene Wasilij Bykow, in der Literaturnaja Gaseta von den Grausamkeiten bei der „Liquidierung des Kulakentums“ in seinem weißrussischen Heimatdorf: Ein Bauer wurde ausgesucht, weil er anders als die anderen nicht nur eine Kuh, sondern eine Kuh mit Kalb besaß, ein anderer, weil er sich während der Ernte von einer weiblichen Verwandten helfen ließ, also Lohnarbeiter beschäftigte. Neben der antireligiösen Propaganda hätte dieses Unrecht große Teile der Bauern zur anfänglichen Kollaboration mit den deutschen Besatzern verleitet. Selbst in Tauwetterperioden wäre früher dergleichen nie gedruckt worden, und Bykow befände sich längst in Haft. Jede bisherige Liberalisierung hatte mit ihrer Rücknahme eine neue Generation von Dissidenten und Emigranten geschaffen. Ihr Mut und ihre Beharrlichkeit waren schon immer bewundernswert. Ihre soziale Isolation aber konnte verdecken, daß sie mehr waren als Absprengsel einer sonst furchtsamen und opportunistischen Gesellschaft. Nun erst zeigt sich, daß viele von ihnen tiefgreifende gesellschaftliche Tendenzen formulierten, die nun offener zutage treten. Die Kultur ist dafür nur ein sehr optimistischer Seismograph. Gegenwehr Jene, deren Pfründe bedroht sind, werden Widerstand leisten, und auch sie gehören zur sowjetischen Gesellschaft. Je mehr sich aber die Macht der Reformer festigt, desto deutlicher zeichnet sich ab, daß die Sowjetunion im Begriff ist, eine Epochenschwelle zu überschreiten. Danach wäre die einzig denkbare Alternative zu den neuen Verhältnissen ein Militärputsch. Und der wäre unter gegebenen Umständen entsetzlich. Der mühsame Beginn der wirtschaftlichen und politischen Reform könnte zu einer raschen kulturellen Blüte führen. Denn in keinem anderen Land wird so viel und so intensiv Literatur gelesen und geliebt wie in Rußland. Das hat dazu beigetragen, daß es dort, wenn auch teilweise im Untergrund oder im Halbschatten, immer eine vitale Kultur gegeben hat - unter Bedingungen, die anderswo nur eine Wüste hinterlassen hätten. Sogar der Altstalinist Molotow scheint vom Neuen angesteckt zu sein. In dem Interview mit dem Moskauer Fernsehen jedenfalls sagte er: „Ich bin begeistert von den Veränderungen, die in unserem Leben stattfinden. Es ist nur ärgerlich, daß mein Alter und meine Gesundheit mir nicht gestatten, aktiv an ihnen teilzunehmen.“
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