Retrospektive Mona Hatoum: Minimalismus der Beklemmung
Feministisch, politisch und ohne Schnörkel ist die Kunst der palästinensisch-britischen Mona Hatoum. Eine Retrospektive in Berlin in drei Orten.
Die Welt wackelt und ist instabil. Diesen Allgemeinzustand kann die palästinensisch-britische Künstlerin Mona Hatoum physisch erfahrbar machen. In das 20 Meter hohe Kesselhaus einer ehemaligen Brauerei in Berlin, deren Backsteinbau nun das Kindl Zentrum für zeitgenössische Kunst ist, ließ sie die neunstöckige Gitterkonstruktion „all of a quiver“ (Alles ein Zittern) einbauen.
Mal steht das Metallgestänge aus einer Vielzahl schwarzer Quadrate aufrecht, als sei es eine Reminiszenz an die weißen Würfelkompositionen des Konzept- und Minimalkünstlers Sol LeWitt. Dann beginnen plötzlich die unteren Stangen nachzugeben. Sie knicken ein, rasselnd und quietschend, ein Gigant fällt in die Knie. Doch noch bevor der gesamte Koloss zusammenbricht wie ein mittelalterlichen Ritter unter der zu schweren Rüstung, richten Motoren das Gebilde wieder auf.
Es war nur eine Erschütterung, noch nicht das Ende. So darf man „all of a quiver“ deuten. Mona Hatoum entwickelte die riesige Installation speziell für diese Ausstellung, die sich als Retrospektive an gleich drei Orten in Berlin ausbreitet.
Hatoum lebte selbst an den Bruchkanten globaler Konflikte, das Gefühl einer permanenten Bedrohung taucht – sehr direkt oder sehr subtil – stets in ihrer Performance- und Installationskunst auf. Sie kam 1952 in Beirut zur Welt, als Kind palästinensisch-christlicher Eltern, die wenige Jahre zuvor aus Haifa im Zuge des israelisch-arabischen Kriegs geflohen waren. Als 1975 der Bürgerkrieg im Libanon ausbrach, war Hatoum gerade in London. Der Weg zurück blieb ihr dann lange verwehrt.
Mona Hatoum: Neuer Berliner Kunstverein bis 13. November 2022, Georg Kolbe Museum bis 8. Januar, Kindl Zentrum bis 14. Mai 2023
Internationale Aufmerksamkeit erhielt sie 1983 bei einem Stipendienaufenthalt in Kanada durch ihre radikale Performance „The Negotiating Table“: Hatoum legte sich nackt auf einen Tisch, ihr Körper war mit einer Plastikfolie überzogen und mit blutigem Fleisch bedeckt. Jeder Atemzug der Künstlerin versetzte auch den roten Fleischberg in Bewegung.
Aus dem Off ertönten Nachrichten zum Nahostkonflikt. Der Körper auf dem Verhandlungstisch symbolisierte die zivilen Opfer des Konflikts. Und weil es sich dabei um einen weiblichen Körper handelte, wurde er auch zum Symbol für das mehrfache Leid von Frauen in patriarchalen Systemen im Kriegszustand.
Videoaufnahmen von Hatoums frühen Performances sind auch im Georg Kolbe Museum zu sehen. Viel beeindruckender allerdings sind die Installationen aus den letzten zwei Jahrzehnten. Sie alle vermitteln einen Zustand von Unsicherheit und Bedrohung.
„Tectonic“ etwa besteht aus großen Glasplatten, auf die Hatoum die Umrisse der Kontinente auftragen ließ. Die Platten ruhen auf kleinen Metallkugeln. Das macht die Installation fragil und erinnert daran, dass auch die Erdmassen unter den Füßen nur an sich bewegenden Kontinentalplatten gebunden sind.
Wurden Hatoums frühe Arbeiten vor allem wegen ihrer Herkunft auf den Nahostkonflikt hin gelesen, so bemühte sie sich später um einen erweiterten Blick auf ihre Kunst. Die Besucher*innen kämen mit dieser „vorgefertigten Idee, woher ich komme, und neigen dazu, das, was ich in meine Werke einbringe, in Bezug auf meine Herkunft zu überinterpretieren“, zitierte sie 2015 die New York Times.
Seither tauchen häufig Weltkarte und Globus in ihrer Arbeit auf. In signalroten Neonröhren leuchten jetzt etwa die Kontinente auf ihrer Erdkugel „Hot Spot III“ aus Stahldraht im Neuen Berliner Kunstverein.
Am intensivsten wird der Zustand der Bedrohung, mit dem Hatoum so viel operiert, wenn sie in ihren küchenartigen Rauminstallationen elektrischen Strom durch Haushaltsutensilien fließen lässt. Der Stromfluss bringt Siebe, Reiben oder Trichter zum Knistern und Sirren, Glühbirnen flackern von ihm auf.
„Mobile Home II“ von 2006 oder schlicht „Home“ von 1999 heißen diese minimalen, beklemmenden Interieurs, die nun in Berlin zu sehen sind. Sie verdeutlichen, wie wenig sicher bei Hatoum selbst die innersten Zonen eines Hauses sein können. Insbesondere die Küche, der Ort, der weithin als „weibliches“ Territorium konnotiert ist.
Mona Hatoum ist eine feministische Künstlerin. Die Unterdrückung von Frauen und Mädchen stellt für sie stets aber auch nur eine Form von vielfältigen Gewaltverhältnissen dar.
„Feminismus hatte einen enormen Einfluss auf die Kunst seit den 1970er Jahren. Ich merkte aber, dass die Untersuchung der Kluft zwischen den Geschlechtern auch den Weg bahnte zur Befragung anderer Machtstrukturen anhand der Linien von Herkunft, Klasse und kulturellen Unterschieden“, stellte sie 2003 in einem Katalogtext des MoMA fest.
Für ihre klare, politische Kunst fand Mona Hatoum ab Mitte der 1990er Jahre weltweit Anerkennung. 1994 hatte sie ihre erste Schau im Pariser Centre Pompidou. Ein Jahr später wurde sie für den renommierten Turner Prize nominiert. Seit einem DAAD-Stipendium 2003 ist sie auch Berlin verbunden. Die jetzige Retrospektive ist nach vielen Jahren die erste Einzelausstellung in Deutschland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?