: Rendezvous per Bildschirm
■ Einsame, Voyeure und andere PariserInnen können auch künftig elektronische Kontaktbörsen nutzen
Kalt und unfreundlich ist es in Paris, mit kurzen Unterbrechungen gießt es seit Tagen. Über dem Cafe gegenüber flimmern in roten Lettern Öffnungszeiten und Speisekarten über ein elektronisches Band, ein Stück weiter rechts informiert „der Bürgermeister“ des Viertels auf einer ebenfalls elektronischen, diesmal grünen Hinweistafel über Veranstaltungen und Verkehrsstaus. Windböen fegen in das Cafe, sobald die Tür sich öffnet. Nein, gemütlich ist es nicht. Was liegt also näher, als sich etwas Wärme anderswo zu besorgen?
Gesagt, getan. Zu Hause erwartet mich mein minitel, eine Art Winzcomputer, dessen Funktionen etwa unserem Bildschirmtext entsprechen, der aber umsonst von der Post erhältlich ist. Die Kommunikation freilich muß bezahlt werden. Ich wähle die 3618 und gebe das Kennwort P111 ein, das im 640 Seiten starken Begleitwälzer zu finden ist. (P111 ist eine der sogenannten „messageries rosees“, die Kontakte vermitteln.) Schon bin ich bei den „Rendezvous von Paris“ gelandet. „Im Verborgenen gedeihen Vergnügungen ... und Phantasien, von Wien bis Venedig“, heißt es. Die Pünktchen sind dazu angetan, alle möglichen schönen wie finsteren Gedanken zu wecken. Ich gebe auf eine entsprechende Frage ein Pseudonym, „Annie“, ein, das Sesam-Öffne-Dich für 74 verschiedene Stichworte, die zugleich Angebote sind. Manche bestehen nur aus einem Namen, männlich oder weiblich, andere lauten „Meine Frau ist verreist“, „Mann sucht Massagen“, „Junge Frau, unterwürfige Exhibitionistin“ oder „Junger Mann, Eltern in Urlaub“ - gar nicht besonders bizarr, eher so, wie man es aus entsprechenden Kleinanzeigenrubriken kennt.
Der Clou ist die direkte, private Kommunikation mit einem potentiellen Partner. Nachdem ich meine Wahl getroffen habe („Mann, sehr zärtlich“), gebe ich die Botschaft „Ich brauche Hitze bei diesem beschissenen Wetter“ ein. Jemand meldet sich mit „Guten Tag - nackt?“ Es entspinnt sich folgende Kommunikation:
Ich: Schon möglich.
Er: Was suchst du?
Ich: Vergnügen und Wärme.
Er: Schöne Brüste?
Ich: Ja. Bauch?
er: Schlank?
Ich: Ja. Bart?
e:) Wie alt?
Ich: Und Sie?
Er: Wir müssen uns sehen.
Ich: Gewicht? Wie alt?
Er: Deine Telefonnummer?
Der Herr will partout nicht auf meine Fragen nach seinem Äußeren antworten. Ich breche die Kommunikation ab. Der nächste Versuch ist auch nicht besser. Später sehe ich, daß ich jetzt unter „Annie“ in der Angebotsliste auftauche, die auf 75 angewachsen ist.
Eine andere messagerie rosee ist sich des Problems solcher Voyeure wie mir wohl bewußt. Bei Neron, einem Service für Schwule, läuft folgender Vorspann ab: „Wir bedauern die ausgeprägte Piraterie bestimmter konkurrierender Dienste. Diese Haltung ist um so bedauerlicher, als diese Konkurrenz-Dienste mit falschen Pseudonymen gefüllt sind. Wir haben uns entschieden, nicht zu antworten, da wir sicher sind, daß Sie nicht getäuscht werden wollen.“ Natürlich habe ich bereits ein „falsches Pseudonym“ eingegeben. Was passiert jetzt? Ratlos drücke ich die „Enter„-Taste, und schon habe ich 26 verschiedene Angebote auf dem Schirm. So ernst war das also offensichtlich nicht gemeint.
Wenn es nach dem ehemaligen Innenminister Charles Pasqua gegangen wäre, hätte die Zukunft dieser rosaroten Dienste recht finster aussehen können. Die Direktoren von P111, Neron und drei weiteren messageries rosees wurden nach Artikel 284 des Strafgesetzbuches angeklagt, der untersagt, in der Öffentlichkeit auf Möglichkeiten der Verführung aufmerksam zu machen. Sechs Verbände, denen die Bewahrung der öffentlichen Moral und der Schutz der Jugend am Herzen liegt, traten als Nebenkläger auf. Doch so einfach lagen die Dinge nicht. Die Angeklagten wurden freigesprochen. Wie aus der Urteilsbegründung hervorgeht, liegt der Vergleich zum Presserecht schief, denn während ein Chefredakteur für Gedrucktes in seinem Blatt geradestehen muß, kann man dem Direktor einer messagerie rosee schwerlich anlasten, wie zwei potentielle Partner über ihr minitel miteinander kommunizieren. Bei allzu schweinischen Begriffen wird die Kommunikation zwar automatisch abgebrochen, ein Zensurmechanismus, den besonders Interessierte allerdings zu umgehen wissen. Außerdem, so hieß es weiter, kann selbst die lüsternste Absicht der Benutzer allein für ein Verbot der rosaroten Dienste nicht ausreichend sein. Und die gesetzlich vorgesehene „Verantwortung für den anderen“ bezieht sich nur auf klar begrenzte Ausnahmefälle aus einer Zeit, als es noch keine messageries rosees gab. Es bedürfte also einer Gesetzesinitiative im Parlament, um P111, Neron und anderen den Garaus zu machen.
Aus Paris Annie X
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