Reisebericht Brexit-Reise (England, Nordirland, Irland) Mai 2019: Versuch, mir und anderen den Brexit zu erklären

Christina Klenner fuhr im Mai 2019 mit einer taz-Reise nach England, Nordirland und Irland - um mehr über die Hintergründe des Brexit zu erfahren. Sie hat die Erfahrungen vor Ort und die Einschätzungen von 15 Gesprächspartner*innen zusammengefasst:

Bei der Anmeldung für die „Brexit-Reise“ der taz waren wir alle davon ausgegangen, ein Land zu besuchen, das gerade die Europäische Union verlassen hat. Doch als sich die kleine Gruppe am 12. Mai 2019 in London traf, war das Austrittsdatum bereits Geschichte und die Briten waren noch drin.

Und so wollten wir nicht nur wissen, was einerseits die Mehrheit, die pro Brexit gestimmt hat, dazu bewogen hat und was andererseits die Minderheit der „Remainer“, die für den Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft waren, für Argumente hatten. Mindestens ebenso oft stellten wir die Frage, wie es jetzt wohl weiter gehen wird. Und da erhielten wir verschiedene Antworten, aber wir sahen auch oft in ratlose Gesichter. Die meisten Befragten wussten es nicht.

Nur eines schien allen klar. Die Situation im Mai 2019 war eine Zeit tiefer Widersprüche in Großbritannien. Widersprüche, die die beiden stärksten Parteien, die Konservativen (Tories) und die Labour Party zu zerreißen drohen.

Ebenso wie schon in der Zeit vor dem Referendum 2016 taten sich tiefe Gräben zwischen den Sichtweisen und ihren Vertreter*innen auf. Manchmal, und das hörten wir mehr als einmal, gingen die Risse mitten durch die Familien. Um das auszuhalten, spreche man einfach nicht mehr darüber.

Bild: AP

Ronnie GOLZ, einer unserer Reiseleiter, der lange in London gelebt hat, gab am ersten Abend schon einen Überblick über einige Faktoren, die für das Brexit-Votum verantwortlich sein könnten. Und tatsächlich bestätigt sich vieles in den Gesprächen der nachfolgenden Tage.

Langsam, ganz langsam verstehen wir den „Brexit-Schlamassel“ ein bisschen besser. Es hat nicht 'den' Grund, sondern ganz unterschiedliche Faktoren dafür gegeben, warum das Land gespalten ist und 2016 eine Mehrheit für das Verlassen der Europäischen Union gestimmt hat.

Faktoren, die zum Brexit-Votum geführt hatten

An erster Stelle stehen wahrscheinlich die gravierenden sozialökonomischen Probleme. Sie sind zum Teil auf einen länger andauernden Prozess der Deindustrialisierung zurückzuführen, aber auch auf eine Sparpolitik nach der Finanzkrise 2008/09, durch die viele bereits beschlossene Projekte gestrichen wurden, hier ein wichtiger Deich, dort die Elektrifizierung einer Bahnstrecke oder die Renovierung einer Schule.

Bild: AP Katsioulis

Viele Menschen leben heute schlechter als vor Jahren, die Realeinkommen sind zurückgegangen und zusammen mit den massiven Kürzungen bei öffentlichen Ausgaben haben viele bei der Abstimmung ihrem Unmut Luft gemacht. Sicher steht nicht alles mit Europa im Zusammenhang. Viele Probleme sind auf die britische Politik zurückzuführen, angefangen bei der Politik von Margret Thatcher aber auch von Toni Blair. Doch bot das Referendum ein Ventil, direkt „Nein“ zur Politik zu sagen.

Der Druck der Globalisierung, der zuweilen zum Bankrott heimischer Industrien geführt hatte, war ungebremst bei den Betroffenen angekommen. Offenbar gab es kaum eine gezielte Regionalentwicklung, um betroffene Städte beim Strukturwandel zu unterstützen. Stattdessen wurde der Finanzsektor massiv ausgebaut, was aber nur dem Großraum London nutzte.

Die teilweise schlechte Situation an Schulen, das überlastete Gesundheitssystem (NHS) und der angespannte Wohnungsmarkt trugen ihren Teil zur Unzufriedenheit bei. Und nicht zuletzt spielte der Versuch von Nigel Farage und anderen, die sozialen Probleme mit der Einwanderungsfrage zu verknüpfen, eine große Rolle.

Die Unfähigkeit oder der mangelnde Wille der Politik, auf die entstandenen Probleme zu reagieren, machte es denjenigen leicht, die den Zuwanderern die Schuld an vielen Problemen in die Schuhe geschoben und ausländerfeindlich argumentiert haben. Die Zuwanderung hat in den letzten 10-15 Jahren deutlich zugenommen.

Bild: Ronnie Golz

Zwar liegt der Migrantenanteil nun etwa so hoch wie in Deutschland, doch war er vor Jahren gerade einmal halb so hoch. Großbritannien hat unter Toni Blair bei der EU-Osterweiterung 2004 nicht die 7-jährige Übergangsfrist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit verhandelt, wie andere westliche EU-Staaten das getan haben. Das heißt, viele Menschen in Mittelosteuropa, die Arbeit und ein besseres Leben erhofften, sind ab 2004 aus der EU nach England gekommen.

Ronnie GOLZ wies uns auch auf andere Faktoren hin. Einer liegt auch im Mehrheitswahlrecht begründet: Es begünstigt eine große ideologische Spannweite an Positionen innerhalb der großen Parteien. So konnte sich Labour unter Corbyn nie zu einem klaren Bekenntnis zur EU durchringen.

Die EU habe mit ihren Liberalisierungstendenzen die Kritik bestimmter Teile von Labour hervorgerufen. Und Golz erinnert an historische Fakten, an das britische Empire, die Gründung des Commonwealth und damit die intensiven Verbindungen Englands zu vielen Ländern der Erde und auch die Zögerlichkeit, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beizutreten.

Großbritannien habe auch aufgrund der Insellage und der engen Verbindungen zu anderen englischsprachigen Nationen in der Welt ohnehin eine gewisse Distanz zu „Europa“, zu dem sich die Briten nicht richtig dazurechnen und weshalb sie anfangs nicht der damaligen EWG beitraten. Später verzögerte das zweimalige Veto Frankreichs gegen einen Aufnahmeantrag Großbritanniens in die EWG (1963 und 1967) den Beitritt weiter.

Bild: Jeff Harwell

In welchen Orten waren wir unterwegs? Und was sagten unsere Gesprächspartner?

London

Gleich am zweiten Tag in London sprachen wir mit William MARSH, der an der Queen Mary University arbeitet und ein Befürworter des Verbleibs in der EU (also ein „Remainer“) ist. Er sagt, die Remainer haben nur ökonomisch und mit Angst vor den Folgen des Austritts argumentiert, während die Brexit-Befürworter sagten, es gehe um viel mehr. Sie brachten Gefühle zum Schwingen, wenn Boris Johnson in der Anti-EU-Bewegung mit seinem Slogan „Take back control!“ Stimmung machte.

Seine Kampagne versprach mehr Selbstbestimmung. Die Befürworter des Verbleibs in der EU hatten hingegen Probleme, das Demokratiedefizit der EU zu „verkaufen“. Allerdings war die Europäische Union vor dem Referendum kein „hot topic“ der öffentlichen Debatte. Stattdessen standen oben auf der Agenda das Gesundheitssystem, die steigenden Preise für Häuser und Mieten (junge Leute können keinen Kredit mehr für Häuser bekommen), an dritter Stelle die Zuwanderung, die eben auch die Nachfrage nach Häusern mit beeinflusst. Es sind aber insgesamt zu wenige Häuser gebaut worden.

Später empfing uns der Labour-Abgeordnete Ben BRADSHAW, Mitglied des Unterhauses (aus dem Wahlkreis Exeter) in Westminster. Er sagt, 80 Prozent der Labour-Mitglieder wollten in der EU bleiben. Für ihre eigene Wählergruppe wirkte die Parteiführung ärgerlich unentschlossen. Parteivorsitzender Corbyn hätte mit seiner massiven Kritik an der EU und ihrer Liberalisierungspolitik sich hier kaum eindeutig geäußert.

Eine Rolle für das Brexit-Votum spielt in seiner Sicht die Austeritätspolitik und der Mangel an Geld für öffentliche Dienstleistungen. Die Vorteile für Großbritannien, die es aus der Mitgliedschaft in der EU zieht, seien nicht kommuniziert worden. Es gebe vieles, was Großbritannien machen könnte, um den Ängsten der Bevölkerung zu begegnen.

Gespräch mit dem Labour-Abgeordneten Ben Bradshaw (in der Mitte, vor der Holztür) Bild: Ronnie Golz

Eine Reform des Wahlsystems in Großbritannien hält Bradshaw für sehr wichtig. Durch das Mehrheitswahlrecht könnten die Menschen real nur zwischen den beiden konkurrierenden Parteien, den Tories und Labour, wählen. Kleine Parteien haben so gut wie keine Chance. Mit manchmal weniger als 40% könnte ein Abgeordneter einen Wahlkreis gewinnen, und alle anderen Stimmen fielen weg. Sie sind nicht, wie beim Verhältniswahlrecht, anteilig für die Sitzverteilung im Parlament maßgebend. (Übrigens sei das bei einem Referendum anders: Bei der Brexit-Abstimmung sei die eigene Stimme unmittelbar ins Gewicht gefallen!) Ein Referendum, das Mehrheitswahlsystem abzuschaffen, ist jedoch erst vor kurzem gescheitert.

Als wir heraustraten, sahen wir dann vor Westminster viele Absperrungen und je ein Häuflein Demonstrierender. An der einen Stelle Leute mit Transparenten: „No-Deal Brexit: Now!“ sowie „Heraus aus dem EU Gefängnis“. Ein paar Meter entfernt stand dort auf den Transparenten: „Pro EU!“. Die Demonstrierenden schwenkten Fahnen, diagonal geteilt, ein Dreieck mit EU-Sternen auf einer Seite und dem britischen Kreuz auf der anderen Seite. Und viele wehende leuchtend blaue Fahnen der Europäischen Union. Die Spaltung der Meinungen war mit Händen zu greifen.

Am Nachmittag trafen wir Kate YOUNG, die in einer zivilgesellschaftlichen Organisation namens CHEM TRUST arbeitet. Sie erläutert, dass in der EU ist ein wichtiges Regelwerk mit Namen REACH (das ist die EU-Chemikalienverordnung) ausgearbeitet worden ist. REACH ist eine gigantische und wie sie sagt, sehr niveauvolle Datenbasis, mit deren Hilfe die menschliche Gesundheit sowie die Umwelt vor Risiken von chemischen Inhaltstoffen in Produkten geschützt werden soll. Die Beweislast für die Ungefährlichkeit von Chemikalien hat REACH den Unternehmen auferlegt.

Wenn Großbritannien nach einem Brexit nicht in diesem Abkommen bliebe, können die britischen Firmen den Handel mit den EU-Ländern gar nicht aufrechterhalten oder es würden zumindest vielfältige Kontrollprozeduren anfallen. Kate Young sagt, die „Brexiteers“ hoffen zwar auf die Ausweitung des USA-Handels. Real ist aber heute der Handel mit der EU am größten. Allerdings wolle die Pestizidindustrie die relativ strenge EU-Regulierung, die die Industrie als „EU Gefängnis“ bezeichnet, loswerden.

Bild: Ronnie Golz

Am Abend saßen wir mit Daniel ZYLBERSZTAJN, dem in London lebenden taz-Korrespondenten, beim Abendessen zusammen. Er berichtete von einer Abendveranstaltung mit Nigel Farage und seiner ganz neuen Brexit-Partei, zu der 1400 Leute gekommen waren – großer Zulauf also. Bei einer in Peterborough notwendigen Nachwahl für das Unterhaus könnte diese Partei, die sich nun nicht mehr offen nationalistisch oder rassistisch gibt, das erste Mandat für das Unterhaus erringen (heute wissen wir, dass sie es doch nicht geschafft hat, sondern eine Labour-Kandidatin gewann).

Er erzählte auch von „Bath for remain“, ein Bündnis in der Stadt Bath. Vertreten waren dort die Grünen, die Liberaldemokraten, die neue Partei „Change UK“ und eine Frau von der Labour-Party (die aber wegen der Unentschlossenheit ihrer Partei angegriffen wurde). Solche Initiativen gibt es auch in anderen Städten. Hier aber waren gerade einmal 50 Interessierte.

Cambridge

Unsere Route führte uns dann über Cambridge, die Universitätsstadt, wo uns der Historiker Robert TOMBS in den Räumen seines ehrwürdigen Colleges empfing. Auch er verwies auf die Angstkampagne der „Remainer“. In diesem Zusammenhang hatte das Finanzministerium eine Senkung des Bruttoinlandsprodukts um 8% prognostiziert, sollte Großbritannien aus der EU austreten. Ökonomen fanden diese Vorhersage nicht solide, aber sie konnten das Finanzministerium nicht dazu bewegen, über die zugrundeliegenden Annahmen ihrer Prognose Auskunft zu geben.

Für Tombs spiegelt die Brexit-Abstimmung eine Klassen- und ebenso eine regionale Differenzierung wider. Zweifelsohne gab es auch große Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Das Pro-Votum der Jüngeren für die EU sei verständlich. Sie würden nichts anderes kennen und begründeten ihre Position für „Remain“ mit ebenso oberflächlichen Argumenten wie sie zugegebenermaßen auch die Brexit-Anhänger häufig verwendeten.

Gespräch mit Historiker Robert Tombs (2. von links) Bild: Christina Klenner

Er selbst begründete seine Leave-Position mit der Bedeutung von mehr demokratischer Kontrolle, die derzeit nur im nationalen Rahmen gegeben sei. Er griff dabei auf eine neue Theorie zurück: "Anywhere-people", jene, die überall zuhause seien, würden das gern übersehen, auch weil sie zu den Globalisierungsgewinnern gehören. Demgegenüber stehen die "Somewhere-people", die „vor Ort“ bleiben und die die Globalisierung vor allem als Gefahr erleben. Deshalb haben Letztere eher für Austritt gestimmt haben.

Tombs gibt Demokratisierungsprozessen innerhalb der EU keine großen Chancen. Dass sie auf absehbare Zeit die nationalen demokratischen Systeme ersetzen könnten, glaubt er nicht. Erforderlich wäre es, die bisher gegebenen horizontalen Strukturen mit ihren parallelen Machtebenen (Kommission, Rat, Parlament) in eine vertikale Struktur umzubauen.

Ein gigantisches Unterfangen, meint Tombs. Ohnehin ginge es in der EU in Richtung einer engeren politischen Integration oder in Richtung Krise und Zerfall – und bei beidem will Großbritannien nicht dabei sein! Wenn Großbritannien Teil der EU bliebe, würde es weniger Teil der englischsprachigen Welt sein, zu der enge Bindungen bestehen, zum Beispiel zu Indien. Er argumentiert auch mit dem Beispiel anderer kleiner bis mittelgroßer Völker wie Norwegen, Schweiz oder Singapur, die auch alleine gut in der globalisierten Welt klarkommen und in denen, Umfragen zufolge, die Menschen am glücklichsten seien. Er glaubt, Großbritannien kann das ebenfalls schaffen.

Bild: Ronnie Golz

Auf der weiteren Busfahrt fragte Ronnie unseren Busfahrer, wie er votiert hat. Er habe für den Brexit gestimmt, denn so kann es nicht weiter gehen, sagte er. Die Busfahrer werden dafür verantwortlich gemacht zu verhindern, dass sich Flüchtlinge in Calais nicht im oder unter dem Bus verstecken, was diese aber in ihrer Not immer wieder versuchten. Falls es gelingt, muss ein Busfahrer 2000 Pfund pro Person als Strafe zahlen, auch wenn er es vielleicht nicht bemerkt hat, dass sie unter dem Bus hängen. Seine Frau allerdings hat für „remain“ gestimmt und meint, der Brexit wird nichts an dem ändern, was ihren Mann stört.

Boston

Boston ist nicht nur die Stadt, von der aus sich die Auswanderer nach Amerika aufmachten und das heute größere Boston in Massachusetts gründeten. Es ist auch die Stadt, die beim Referendum landesweit den höchsten Anteil an Brexit-Stimmen hatte. Hier trafen wir Paul GLEESON. Er ist Anwalt und war lange Stadtrat in Boston für die Labour-Partei. Er wurde aber am 2. Mai 2019 abgewählt. Er leitete die Kampagne für Verbleib in der EU in seiner Stadt.

Das überwältigende Pro-Brexit-Votum der Menschen hier lastet er dem Versagen der öffentlichen Hand an: sie hätte mit infrastrukturellen und sozialpolitischen Maßnahmen auf die Zuwanderung von EU-Bürgern reagieren müssen. Klar sei, dass die Landwirtschaft immer schon eine Nachfrage nach Saison-Arbeitskräften gehabt hätte (das waren früher Portugiesen). Doch durch den Ausbau der Weiterverarbeitung von Gemüse und andere Faktoren gibt es heute mehr ganzjährige Arbeit. Das lockte zahlreiche Ausländer, insbesondere aus der EU nach deren Osterweiterung an.

Paul Glesson, ehem. Labour-Stadtrat in Boston Bild: Christina Klenner

Infolgedessen leben nun viele Polen und Rumänen hier. In Großbritannien insgesamt sind es fast 1 Million Polen und viele andere Osteuropäer. Sie haben die vollen Rechte, schicken ihre Kinder in die Schule und gehen zum Arzt. Die Politik hätte darauf reagieren müssen, stattdessen ließ sie die Kommunen damit allein. Hier sieht Labour-Politiker Gleesen ein großes Versäumnis der Politik.

Einen riesigen Arztmangel gab es nämlich auch schon vor der Zuwanderung! Das Nationale Gesundheitssystems sei seit längerem prekär. Wir erfahren nebenbei, dass unser Busfahrer zum Beispiel, um die 60 Jahre alt, noch keine neue Hüfte bekommt, obwohl er große Probleme hat. Er sei dafür zu jung (denn ein künstliches Gelenk würde voraussichtlich nicht bis an sein Lebensende halten.)

Boston ist eine der fünf ärmsten Kommunen. Inflationsbereinigt haben die Einwohner 16.000 Pfund pro Jahr zur Verfügung. Was auch fehlt, ist eine steuernde Wohnungspolitik. Nun stagnieren seit Jahren die Löhne, von denen die ständig steigenden Mieten bezahlt werden müssen.

Die öffentliche Sparpolitik nährte vor diesem Hintergrund eine Ausländerfeindlichkeit, die die Zuwanderer als Sündenbock abstempelte. Es gab eine sehr hässliche rechtsgerichtete rassistische Kampagne, die in Boston für den Brexit geworben hat: „Schiffe werden kommen voller Zuwanderer“.

Die EU hätte Gleesen‘s Ansicht nach auf die Ungleichgewichte in der EU-Arbeitskräftewanderung reagieren müssen. Die Union hätte zum Beispiel Geld für den Ausbau der Schulen geben können, in die auch die Kinder der zugewanderten Osteuropäer gehen, oder Subventionen für Arztpraxen.

Warum ist Gleesen für den Verbleib seines Landes in der EU ist: In Zeiten von Trump und Putin kehrt man nicht den engsten Verbündeten den Rücken. Arbeitnehmerrechte kommen durch die EU, nicht durch die britische Regierung. Er sagt: Großbritannien wird nicht das neue Singapur werden.

Farmer Buck (links) und sein Bruder Bild: Christina Klenner

In der Nähe von Boston besuchten wir Farmer BUCK und seinen Bruder. Wir trafen uns zuerst in einer großen Scheune, später wurden uns die Felder und viele neue Hallen gezeigt, in die sie investiert haben. Im Wesentlichen stellen sie her: Kartoffeln, Zwiebeln, Narzissen und „The ugly One“ – das ist Knollensellerie. 98 Prozent des Bedarfs an Sellerie in Großbritannien decken sie.

In der Konkurrenz kann der Betrieb im Moment gut mithalten, weil sie die Kosten massiv gesenkt haben und so mit steigenden Umsätzen immer noch gut Profit machen. Profite, die sie reinvestieren und damit rationalisieren. Sie haben bereits in Waschen und Trocknung, in Lagerung bei verschiedenen Temperaturen, in Wiedernutzung der Abwärme und anderes investiert und sind sehr stolz auf ihre wirtschaftlichen Erfolge.

Die Farmer fahren mit uns zu einem ihrer Felder. An einem Feldrain halten wir an, stiefeln bei heftigem Wind über das staubig trockene Feld, um schließlich der Pflanzmaschine ganz nahe zu kommen. Unterbrochen wird unseretwegen die Arbeit nicht. Wir beobachten zehn zumeist sehr junge osteuropäische Landarbeiter*innen, die die Pflanzmaschine bedienen, und die in einem unglaublichen Tempo im Akkord arbeiten.

Die kleinen Pflänzchen der Sellerie stecken in gelben Kunststoffkästen, in denen sie gezogen worden sind und müssen aus diesen in eine Art Schaufelrad eingelegt werden, von wo aus sie nach unten in die Erde befördert werden. Nicht immer klappt es, daher laufen drei Leute hinterdrein und pflanzen nach, damit die Reihen gleichmäßig geschlossen werden. Das sei später für das Ernten wichtig, denn dafür sollen die Knollen etwa alle gleich groß sein. Die Pflanzmaschine wird von einem Traktor gezogen, der im Schritttempo fährt. Das Ganze wird über Satellit gesteuert, vermutlich um immer gleiche parallele Reihen zu haben.

Die Planzmaschine von Farmer Buck für Sellerie-Stecklinge; die Saisonarbeiter kommen aus Polen und Rumänien Bild: Christina Klenner

Die Landarbeiter arbeiten 10 Stunden, von 7 Uhr morgens mit drei Pausen, bis gegen 18 Uhr. Für sie ist es augenscheinlich besser, als in Rumänien zu bleiben. Sie kommen zumeist aus einem Dorf, aus dem auch der Vorarbeiter kommt, der immer wieder für neue Arbeitskräfte sorgt.

Stoke on Trent

In Stoke on Trent trafen wir Daniel JELLYMAN, einen konservativen Stadtrat, im imposanten Rathaus, das ab 1910 gebaut wurde und eher einem Schloss gleicht. Er zeigt es uns mit allen seinen reich geschmückten Räumlichkeiten. Der junge Konservative, der sicher eine Karriere in Westminster vor sich hat – so vermuten wir -, kann eigentlich nicht erklären, warum er Konservativer ist. Er sei das schon mit sechs Jahren gewesen. Stoke war immer von Labour dominiert, aber seit den letzten Wahlen am 2. Mai hat er als Konservativer den Wahlkreis gewonnen.

Er bezeichnete es als große Ungerechtigkeit, das rumänische Einwanderer arbeiten dürfen, aber eine Einwanderin aus Botswana, die er kennt, die Englisch kann, darf nicht hier arbeiten. Großbritannien solle sich wieder mehr auf Commonwealth besinnen! Er sei nicht Rassist, sondern für Einwanderung, aber er findet die Bevorzugung der EU-Zuwanderer nicht fair. Es gibt nach seinen Worten nur einen kleinen Anteil von Ausländern in Stoke, aber die Menschen haben Angst vor dem Fremden. Gegenüber der EU- Zuwanderung könnten sie nichts machen.

Daniel Jellyman, Stadtrat der Konservativen in Stoke-on-Trent Bild: Christina Klenner

Angesprochen auf den Brexit, ging er auf den Backstop ein. Dieses Problem sei auf die Sturheit der EU zurückzuführen, denn die Republik Irland habe erklärt, dass sie nicht die Absicht hat, an der bestehende Grenzregulierung etwas zu verändern. Nordirland will ebenso wenig eine harte Grenze wie die Republik Irland.

Wir Teilnehmenden der Reise fragten uns: kann das EU-Land Irland sich weigern, wenn die EU sagt, wir können keine offenen Grenzen haben, das wäre nur bei einem Binnenmarkt möglich? Jellyman‘s Meinung nach wären die Warenkontrollen möglich, allerdings nicht an der Grenze, sondern mit Hilfe anderer technischer Lösungen, vielleicht via Satellit.

Die Menschen in Stoke on Trent haben nicht das Gefühl, dass die EU ihnen etwas bringt. Die Porzellanindustrie ist nicht mehr konkurrenzfähig, die Konkurrenz im EU-Binnenmarkt hat ihnen geschadet: Griechenland, Rumänien, Tschechien, Frankreich… Und was die EU-Fördergelder angeht, sei die Position der Menschen: „Es ist sowieso unser Geld. wir bezahlen mehr als wir bekommen“. Allerdings wird auch hier nicht ausgewiesen, was mit EU-Geldern finanziert ist, zum Beispiel die neue ansprechende Fußgängerzone.

Bei unserem Gang durch die Stadt außerhalb des Zentrums versuchten wir herauszufinden, warum die Stadt in Teilen einen Eindruck der Verwahrlosung macht. Da ein ausrangierter Sessel, der umgekippt auf einem Durchgangsweg liegt, dort Schäden an den Gebäuden. Da ein Schrottauto auf einem Hausdach. Immer wieder wachsen Bäumchen aus den oberen Etagen der älteren Häuser. Die Vorgärten sind entweder mit unebenen Steinplatten versiegelt, oder es wächst das Gras halbmeterhoch.

Viele Vorgärten sind einfach aufgegeben. Manchmal steht ein rostiges Mofa darin, mal ein alter Einkaufswagen aus dem Supermarkt. Aber dann taucht plötzlich eine winzig-kleine begrünte Ecke auf, wie ein Minipark, und die Bank aus Metallrohren sieht neu aus. Gegenüber kündet ein buntes Transparent von einem bevorstehenden Nachbarschaftsfest.

Bild: Ronnie Golz

Belfast

Wir flogen dann von Liverpool nach Irland, und waren zuerst in Belfast, wo uns Ralf SOTSCHECK in Empfang nimmt. Er ist taz-Korrespondent und Reiseleiter für den irischen Teil der Brexit-Reise. Als erstes hatte er eine Stadtrundfahrt mit Bill ROLSTON, einem emeritierten Professor, organisiert, der intensiv über die Wandgemälde in der Stadt geforscht hat. Beeindruckend sind diese großformatigen Bilder an Hauswänden, die zu Mitteln in der politischen Auseinandersetzung geworden sind. Manche gibt es schon sehr lange, vor allem von den Unionisten, andere haben einen ziemlich tagesaktuellen Bezug.

Im Zentrum der quicklebendigen Stadt Belfast merkt man nichts von der besonderen Situation. Erst vor 21 Jahren und nach ungefähr 4000 Toten in ganz Nordirland endeten hier die so genannten „troubles“, also der Bürgerkrieg.

Das „Karfreitagsabkommen“ sah nach Verhandlungen über Kompromisse endlich einen Waffenstillstand vor. Die EU hat viel zum Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur beigetragen. Aber in den Straßen, wo die Häuser der Katholiken und Protestanten aneinander angrenzen, gibt es immer noch hohe Zäune und sie werden, wie wir erfahren, mit der Zeit immer mehr. Eigentlich sollten sie bis 2025 verschwunden sein. Momentan sieht es nicht danach aus.

Wir trafen Danny MORRISON von Sinn Fein, einer großen Partei in Nordirland, in einem Belfaster Club. Er spricht über die Geschichte, die sicher immer noch eine Rolle spielt und manches erklärt.

Danny Morrison (Sinn Fein) und taz-Korrespondent Ralf Sotscheck Bild: Christina Klenner

Was den Brexit angeht, so haben in Nordirland 56 % der Bevölkerung für einen Verbleib in der EU gestimmt. Jetzt sind nach Meinungsumfragen sogar mehr als 60 % für „Remain“. Er betrachtet den Backstop als Notbremse, denn er sieht die Gefahr, die Gewalt könnte wieder ausbrechen. Die „provisorische“ IRA werde sich ermutigt fühlen.

Die ganze Brexit-Auseinandersetzung ist in Nordirland anders gelagert als in England. Während in Nordirland die Grenzfrage vor dem Hintergrund des nordirischen Friedensprozesses im Vordergrund steht, spielen in England ökonomische Fragen die entscheidende Rolle.

Die Gründe für oder gegen den Brexit unterscheiden sich also erheblich. Die Iren können sich nicht vorstellen, dass sie beim Passieren der Grenze einen Pass zeigen müssen. Sie sagen: „Also ich bin doch in Irland und ich will von Irland nach Irland!“

Es gibt einen Vorschlag, Nordirland im Binnenmarkt zu belassen, ohne die Nordiren politisch aus dem Verbund des Vereinigten Königreichs herauszulösen. Es wäre auch möglich, dass sich Nordirland mit der Republik Irland vereinigt. Das würden die Nordiren gewiss favorisieren. Die Ökonomien beider Länder sind sehr stark verflochten. Das gilt insbesondere für die Landwirtschaft. Die Milch aus dem Norden wird zu Käse im Süden verarbeitet. Es würden bei einer Zollgrenze hohe Zölle anfallen und alles würde sich verteuern.

Tommy McKearney (rechts) und Ronnie Golz Bild: Christina Klenner

Wir haben in Belfast noch mit einem anderen alten IRA-Kämpfer Tommy McKEARNEY gesprochen, der 16 Jahre im Gefängnis gesessen hatte und zu den Hungerstreikenden gehörte. 1994 kam er aus dem Gefängnis. Er war später Gewerkschaftsbeschäftiger und ist linker Aktivist. McKearney verweist noch einmal auf die Zeit von Thatcher, auf die Deindustrialisierung und den Ausbau der Finanzwirtschaft. Damit ist auch das „Greater London“ (London und Umgebung) angewachsen.

Ein Votum für den Brexit ist hier also auch ein Votum gegen die Reichen in London. Deren Wohlstand steht im scharfen Kontrast zum Niedergang des Schiffbaus hier. Sehr viele Arbeitsplätze gingen in diesem Industriezweig verloren und dafür gab es keinen Ersatz. Von ursprünglich 10.000 Beschäftigten im Schiffbau in Belfast sind heute nur noch 100 verblieben.

Er ist – was zunächst erstaunt – für den Brexit. Das hat mit seiner Kritik an der EU und am Kapitalismus zu tun. McKearney ist für eine vereinigte Republik Irland. Er habe, wie er sagt, dezidiert linke, marxistische Positionen, „links von Corbyn“. Was er und seine Mitstreiter anstreben, das nennen sie LEXIT („Left exit“), eine Position, die aus der Kritik dieser Linken an der neoliberalen Politik der Europäischen Union folgt.

Er bestritt das Argument derjenigen, die für Verbleib gestimmt haben, dass in Irland wieder Gewalt ausbrechen könnte. Er sagte, es bestehe nach 25 Jahren Konflikt und nun auch schon wieder längerer Zeit des Friedensabkommens bei einer Bevölkerung kein Interesse an erneuter Gewalt. Die Toten des Bürgerkrieges seien eine sehr traumatische Erfahrung. Ja, es gibt gewaltbereite Gruppen, aber diese seien klein und marginalisiert.

Bild: Jeff Harwell

Derry und Pettigo

Wir fuhren von Belfast in das sehr viel ärmere Derry, wo die politisch aufgeladene Zeit der „Troubles“ noch deutlicher als in der nordirischen Hauptstadt zu sehen ist. An vielen Stellen gibt es Wandgemälde, Gedenkplätze mit Grabsteinen und Tafeln, die an die Kämpfe erinnern. Und am Ortseingang ein großes Bronze-Denkmal der Versöhnung. Trotzdem gäbe es immer wieder Krawalle, die auch auf die schwierige wirtschaftliche Situation insbesondere für die jungen Leute ohne Perspektive zurückzuführen seien.

Weiter ging es mit dem Bus nach Pettigo - das ist eine Grenzstadt an der unsichtbaren Grenze Nordirlands zur Republik Irland. Wir sprachen dort mit Martin EVERS. Er ist Unternehmer und hat eine Recycling Firma, zurückgekehrt aus den USA, wohin er als junger Mann ausgewandert war. Er spricht noch einmal eindringlich von der jüngeren Vergangenheit, die auch ihn weggetrieben habe, und die er unbedingt seinen Kindern ersparen möchte.

Beim Nordirland-Konflikt haben sich politische und religiöse Fragen vermischt. Traditionell war Pettigo ein in beiderlei Hinsicht gemischtes Gebiet, das später segregiert wurde. Der Bürgerkrieg polarisierte die Leute: man musste sich für eine Seite entscheiden. In seiner Jugend war klar, „wer man war“, je nachdem welche Schule man besuchte, in welche Kirche, in welchem Fußballverein man ging. All das zeigte an, zu welcher Bevölkerungsgruppe man gehörten.

Martin Evers, Unternehmer in Pettigo Bild: Christina Klenner

Meistens segregierten die Leute sich freiwillig, manche gaben ihr Land auf, manche wurden auch dazu gezwungen. Auf seinen Arbeitgeber wurde damals enormer Druck auf ausgeübt, keine katholischen Arbeitnehmer zu beschäftigen. Ihm wurde gesagt, er dürfe nur Protestanten arbeiten lassen. Ebenso diese Mahnung: „Kauf dort nicht“ und so weiter. Die Geburt bestimmte alles, es war eine Vorbestimmung.

Er ging noch einmal zurück zu den Ursachen des Bürgerkriegs. Auch die Katholiken brauchten Rechte, zum Beispiel das Recht, ein Haus zu bekommen. Daher gab es die „civil rights movement“. Er hat reale Angst vor einem Wiederaufleben der Gewalt, denn es gäbe Gewaltbereitschaft. Vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexit hat er auch Angst, aber nicht in dem Maße wie vor der Gewalt.

Sie haben nun in Pettigo mit einer Förderung der EU (60 Prozent der Kosten wurden übernommen) ein Community-Center für alle Religionen und alle politischen Richtungen gebaut. Darin trafen wir uns auch mit Evers. Es ist großzügig gebaut, Tee und etwas zu essen ist auch zu bekommen Es finden sehr viele Kurse statt, zum Beispiel Yoga. Das Center ist ein echtes Begegnungszentrum für die ganze in den umliegenden Ortschaften wohnende Bevölkerung.

Dublin

In Dublin treffen wir abschließend Áine SOTSCHECK von der Gewerkschaft der Grundschullehrer in einem sehr schön hergerichteten Gewerkschaftshaus. Sie berichteteüber viele interessante Entwicklungen, die Republik Irland betreffend. Aber das sind schon wieder andere Themen. Die Brexit-Reise geht zu Ende. Blau strahlt der Himmel über Dublin, in den sich bald unsere Flugzeuge in verschiedene Richtungen erheben.

Áine Sotscheck Bild: Christina Klenner