: Reichlich angeschrammter Mythos
■ Neues Buch über „Traditionsverein“FC St. Pauli – die Erkenntnis: Früher war nicht alles besser
Die jüngsten Ergebnisse des FC St. Pauli waren oft erschütternd: etwa 0:4 in Zwickau, 1:3 bei den Stuttgarter Kickers und zuletzt 2:2 gegen Cottbus. Wer schwelgt angesichts solcher Resultate nicht gerne in Erinnerungen an glücklichere Tage seiner Lieblingskicker? Allen braun-weißen Fans, denen nach Aufmunterung zumute ist und vielleicht auch der Sinn nach etwas Nostalgie steht, liefert René Martens nun die passende literarische Software.
FC St. Pauli – You'll never walk alone ist der (nicht eben originelle) Titel seines Buches über den Club vom Millerntor, dessen Fan der auf St. Pauli lebende Autor seit 20 Jahren ist. Der 352 Seiten starke Band aus der Göttinger Werkstatt-Reihe „Grosse Traditionsvereine“besteht – wie üblich – aus einer sehr ausführlichen Vereinschronik (1907 bis 1997), einem soziokulturellen Abschnitt („St. Pauli Wonderland: Geschichten rumd um den Klub“) sowie einem ausführlichem Statistikteil („Namen und Daten“). Hinzu kommen Portraits einzelner „legendärer“Spieler (zum Beispiel Werner Prokop oder Rüdiger Sonny Wenzel) und einiger „typischer“Fans.
Sehr lesbar dekliniert der Spex- und Hattrick-Mitarbeiter sein Objekt der Begierde durch. Für den Jahrgang-1964-Mann ist der FC St. Pauli ein Teil der Pop-Kultur abseits von Staatsoper und Kammerspielen. Nicht ohne Grund heißt es deshalb auf dem Klappentext, daß das Buch eine „Hommage an ein Gesamtkunstwerk aus Fußball, Fans und Viertel“sei.
Martens' Buch zeigt auf respektlose und meist unterhaltsame Art, Widersprüche in der Geschichte des FC St. Pauli auf, die in den gewöhnlichen Hochglanz-Jubelwerken niemals Erwähnung finden. So verweist er auf das unrühmliche Verhalten der Vereinsoberen in den Jahren der NS-Diktatur von 1933 bis 1945. Wer wußte schon, daß sich das Vermögen des ehemaligen und hochgeehrten Präsidenten Wilhelm Koch auf die Enteignung jüdischer Geschäftsleute gründete? Ein Nazi-Kollaborateur als Namenspatron des heutigen Stadions – auch das ist eine Seite des FC. Schade, daß sich kein amtierendes Vorstandsmitglied oder Vereinsangestellter bei der Buch-Präsentation blicken ließ – trotz Einladung.
Dem Mythos FC St. Pauli eine weitere Schramme verpaßt Barbara Figge. In ihrem Gastbeitrag „Frauen beim FC St. Pauli“kritisiert die Redakteurin des Fanzines Unhaltbar!, dem auch Martens angehört, das frauenfeindliche Verhalten vieler Stadionbesucher. „Auch hier (am Millerntor; die Red.) haben Frauen allen Grund, über plumpe wie ungewünschte Annäherungen in der Enge der Ränge zu klagen.“
Trotz aller Kritik an den am Millerntor herrschenden Verhältnissen ist FC St. Pauli – You'll never walk alone kein einfältiges Mecker-Buch. Es ist der Versuch, den Verein realistisch vorzustellen – soweit dies aus „Fan“-Perspektive möglich ist: ohne Illusionen, aber auch ohne Häme. Der Versuch ist geglückt. Daniel Ganama „FC St. Pauli – You'll never walk alone“, Verlag Die Werkstatt, 352 gebundene Seiten, 39,80 Mark, ISBN-Nr. 3-89533-204-6
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