Regisseur über Jungen-Freundschaft: „Zerbrechlichkeit und Brutalität“
Regisseur Lukas Dhont erzählt im oscarnominierten Drama „Close“ von der Nähe unter Jungen. Ein Gespräch über Gruppenzwang, Gefühle und Verhärtung.
Sensibel und aus nächster Nähe erzählt „Close“ von der intimen Freundschaft zweier Jungen, die unter dem Druck pubertären Gruppenzwangs zerbricht. Der zweite Spielfilm des 31-jährigen Belgiers Lukas Dhont, nach dem Transitionsdrama „Girl“, erhielt in Cannes den Großen Preis der Jury und wurde am Dienstag für einen Oscar in der Kategorie „International Feature Film“ nominiert.
taz: Herr Dhont, warum wollten Sie von der engen Freundschaft zwischen zwei 13-Jährigen erzählen?
Lukas Dhont: Die Intimität zwischen Jungs wird in unserer Gesellschaft schnell sexualisiert. Es gibt kaum Platz abseits davon, weil es als „unmännlich“ gilt, Gefühle zu zeigen oder Zärtlichkeiten auszutauschen. Aber wenn man 13-Jährigen zuhört, wie sie über ihre Freunde reden, klingt das oft sehr liebevoll. Im Laufe der Pubertät gehen diese Sprache und diese Nähe verloren. Ich war einer dieser Jungs, hatte ab einem gewissen Alter Angst vor Intimität und versuchte, vermeintlichen Erwartungen gerecht zu werden. Darüber wollte ich sprechen.
wurde 1991 im belgischen Gent geboren, wo er an der Königlichen Akademie für Schöne Künste (KASK) seinen Abschluss in audiovisuellen Künsten machte. 2018 feierte sein Regiedebüt, „Girl“, in der Sektion „Un Certain Regard“ in Cannes Premiere. Für diesen erhielt er die Camera d’Or für das beste Erstlingswerk.
Woher kommt diese Angst vor Intimität?
In unserer heteronormativen Wahrnehmung gibt es sehr viele Schubladen, in die wir uns gegenseitig stecken. Junge Männer sollen stark sein, unabhängig und nicht verweichlicht. Mir hat dabei das Buch „Deep Secrets“ der US-amerikanischen Psychologin Niobe Way die Augen geöffnet. In ihrer Studie beobachtet sie 150 afroamerikanische Jungen und ihre Entwicklung. Als Way sie im Alter von 13 Jahren nach ihren Freunden befragt, erzählen sie sehr liebevoll, ihre Freunde sind zu dem Zeitpunkt die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Sie teilen Gefühle und Geheimnisse, und sie gehen sehr offen damit um. Jahre später stellt sie ihnen dann dieselben Fragen erneut, und mit 17 oder 18 benutzen nun die Jungen ein anderes, härteres Vokabular. Die Zärtlichkeit, die sie vorher geäußert haben, assoziieren sie nun mit „feminin“ und wehren sich dagegen. Sie distanzieren sich von ihren Freunden und letztlich von sich selbst. Als ich das las, hat mich das sehr berührt, weil ich viel von mir wiedererkannte.
Inwiefern?
Ich wuchs als queerer Junge im flämischen Teil Belgiens auf dem Land auf und hatte in meiner Jugend ähnliche Erfahrungen gemacht, dass ab einem gewissen Alter die körperliche Nähe und Intimität zwischen Jungs als etwas Schmutziges gesehen wird. Ich zog mich von Freunden zurück, weil ich Angst hatte, aufzufliegen. Ich fühlte mich damals sehr allein. Als ich dann Ways Buch las, wurde mir klar, dass es nicht nur mir so gegangen war. Es ging um eine Vorstellung von Maskulinität und wie Jungs und junge Männer konditioniert werden, sich in der Gesellschaft zu verhalten. Einzelkämpfer zu sein und sich zu schützen, indem man einen Panzer um sich aufbaut. „Close“ ist mir also sehr nahe und kommt aus persönlichen Erfahrungen, aber es geht um ein größeres Phänomen.
Der deutsche Beitrag „Im Westen nichts Neues“ von Regisseur Edward Berger ist einer der großen Oscar-Favoriten. Der Film ist am Dienstag in Los Angeles für neun der begehrten Academy Awards nominiert worden, darunter in der Topsparte „Bester Film“. (dpa)
Wie haben Sie zur konkreten Geschichte gefunden?
Ich wollte zunächst von zwei Jungs am Übergang zwischen Kindheit und Pubertät erzählen, ihre noch sehr unschuldige physische Nähe, die abgeschottet von der Außenwelt existiert. Und dann kommt dieser Moment, in dem sie auf den Spielplatz kommen und den Blicken anderer ausgesetzt sind. Es ist ein Mikrokosmos mit Gruppen und Hierarchien, plötzlich gibt es Labels und Schubladen, und ihre undefinierte Freundschaft wird von Außenstehenden eingeordnet, weil sie sie anders nicht verstehen können. Da geht etwas kaputt und davon wollte ich erzählen. Am Anfang standen für mich zwei Worte: Zerbrechlichkeit und Brutalität. Mir ging es darum, wie Brutalität in diese zerbrechliche Kinderwelt einbricht und sie korrumpiert. Mir ist wichtig, diesen Aspekt der Gewalt nicht zu ignorieren. Nicht nur in der Gesellschaft, sondern vor allem die Gewalt, die wir uns selbst antun.
Wie haben Sie mit den beiden jungen Hauptdarstellern, Eden Dambrine und Gustav De Waele, gearbeitet?
Wir verbrachten sechs Monate zwischen Casting und den Dreharbeiten. Wir redeten viel über Freundschaft, Nähe und Verantwortung. Sie sind beide sehr intelligent und in dem Alter noch sehr verbunden mit ihren Emotionen, sie drücken sich sehr unmittelbar und authentisch aus. Ich gab ihnen das Drehbuch, und sie konnten gleich etwas damit anfangen, weil es ganz nah an ihren eigenen Erfahrungen ist. Ich bestärkte sie, ihre Emotionen frei zu auszudrücken, dass sie wertgeschätzt und nicht ausgebeutet werden. Wir redeten über jede Szene, sie brachten dabei viel von sich ein. Ich gab nur den Rahmen vor, sie waren sehr frei, sich darin zu bewegen. Überraschung ist für mich ein wichtiges Element beim Drehen.
„Close“. Regie: Lukas Dhont. Mit Eden Dambrine, Gustav De Waele u. a. Belgien/Frankreich/Niederlande 2022, 109 Min.
Wie Ihr Regiedebüt „Girl“ handelt „Close“ von einer queeren Identitätssuche. Was interessiert Sie daran?
Das hat viel mit meiner eigenen Biografie zu tun. Mit 15 auf dem Gymnasium war ich noch ungeoutet, spielte vor den anderen eine Rolle. Ich hatte gelernt, andere Jungs zu beobachten und ihr Verhalten nachzuahmen, um selbst nicht aufzufallen. Und eines Tages saß ich im Kino und sah im Dunkeln auf der Leinwand zwei Cowboys, die sich ineinander verliebten. Das war „Brokeback Mountain“ und für die Dauer des Films konnte ich an etwas teilhaben, das nicht mehr möglich war, als das Licht wieder anging. In dem Moment wurde mir bewusst, warum ich Filme machen wollte. Um von der Suche nach Identität zu erzählen, in der Hoffnung, dass irgendwo jemand in einem Kino sitzt und sich wiedererkennt und gesehen und verstanden fühlt wie ich damals, als ich mit den Erwartungen und Normen haderte.
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