Regionalwahlen in Russland: Eine Wahl ohne Auswahl
An diesem Wochenende sind Wahlen in Russland, die Opposition hat es schwer. Der Moskauer Nikolai Kassjan tritt an. Wenn der Staat ihn lässt.
Der Anruf könnte jederzeit kommen. Die Mitteilung: Das war's, gestrichen von der Liste, „heruntergenommen“ von der Wahl. Noch aber schiebt Nikolai Kassjan diesen Gedanken beiseite, wenn er auf sein Telefon schaut, mit seinem Anwalt telefoniert, mit seinen Mitstreiter*innen. Im Nieselregen läuft er durch Chamowniki, einen hübschen Stadtteil im Zentrum Moskaus, in der Ferne rattert ein Vorschlaghammer. „In dem Krankenhaus dahinten bin ich geboren, hier um die Ecke wohne ich, dort ist einer meiner Lieblingsparks“, erzählt er.
Es ist sein Zuhause, sein Moskau. Hier will der 24-Jährige etwas bewegen und an diesem Sonntag Stadtteilabgeordneter werden. Als Kandidat, der sich offen gegen den russischen Krieg in der Ukraine ausspricht. „Für den Frieden“, steht auf Kassjans Flugblättern, die er mitnimmt, wenn er Tag für Tag von Wohnung zu Wohnung in Chamowniki zieht und in einer Atmosphäre von Angst und Apathie im Land sagt: „Diese Wahl ist wichtig für ein freies Russland der Zukunft“.
Im Schatten des Krieges in der Ukraine, den der Kreml offiziell „militärische Spezialoperation“ nennt, sind von Freitag bis Sonntag knapp 45 Millionen Menschen in 82 Regionen aufgerufen, in rund 4700 Wahlen auf unterschiedlichen Ebenen ihre Vertreter*innen zu wählen. Gouverneure, Regionalräte, Lokalabgeordnete. Es ist eine Wahl ohne Auswahl, da es dem Kreml darum geht, durch die Regionalabstimmung eine starke Einheit zwischen Staat und Volk zu demonstrieren.
Vor allem die Opposition hat es schwer. Führende Figuren wie Alexei Nawalny oder auch Ilja Jaschin sind in Haft, viele andere haben spätestens ab Februar das Land verlassen. Die, die im Land geblieben sind und sich offen gegen die Politik der Regierung positionieren, werden mit Geldstrafen belegt oder durch fadenscheinige Gründe von der Wahl ausgeschlossen. „Es ist unmöglich, von einer freien politischen Willensbekundung zu sprechen“, heißt es bei der Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“ (Stimme), die russische Behörden als „ausländischen Agenten“ führen. Staatlichen Schikanen zum Trotz will „Golos“ dennoch Wahlbeobachter*innen in die Wahllokale schicken.
Selbst denken, statt auswendig lernen
Festnahmen, Gerichtsverhandlungen, Ordnungsstrafen – für Nikolai Kassjan gehören diese Instrumente längst zu seinem Leben. Wie auch Politik stets zu seinem Leben dazugehörte. Großmutter Anna war in einer Dissidentenfamilie aufgewachsen und hatte in den Endjahren der Sowjetunion eine Privatschule gegründet. „Nicht zum Auswendiglernen, sondern zum Selbstdenken“, wie ihr Enkel heute sagt, der diese Schule durchlaufen hatte. Sein Vater hatte sich Anfang der 2000er Jahre politisch engagiert, auch jetzt tritt er, nach einer längeren Pause, in einem anderen Moskauer Stadtteil zur Wahl an. Der Stiefvater arbeitet als unabhängiger Journalist, mittlerweile aus Lettland.
Als er 14 war, ging Kassjan zu seiner ersten Antiregierungsdemo. „Ich hatte so lange gebettelt, dass mich meine Eltern mitnahmen.“ Er fing an, sich politisch zu engagieren, erst als Freiwilliger für die Antikorruptionsstiftung von Nawalny, später als Mitarbeiter in dessen Moskauer Regionalstab. Er war Pressesprecher der Moskauer liberalen Lokalabgeordneten Julia Galjamina, durchlief mit ihr die Wahlkampagne zur Moskauer Stadtratswahl 2019. „Ich habe aufgehört, mich immer umzusehen, wenn ich das Haus verlasse, habe aufgehört, Sorge zu haben, dass Spezialpolizisten in aller Frühe meine Wohnung durchsuchen, aufgehört, Angst zu haben. Angst ist nicht gesund“, sagt er.
Im März, nach der russischen Invasion in der Ukraine, verließ Kassjan Russland. Im Juni kehrte er zurück, allein, ließ sich als Kandidat der linksliberalen Partei „Jabloko“ registrieren. „Ich will nicht an der Leine gehen, ich will, dass die Menschen lernen, verantwortungsbewusst zu sein. Dass es ihnen gestattet wird, Verantwortung für sich und ihr Umfeld zu übernehmen.“
Seitdem ist er 14 Stunden am Tag auf den Beinen, klingelt bei den Menschen, trinkt mit manchen Tee, erklärt, dass es doch keine „naive Dummheit“ sei, zur Wahl zu gehen. „Der Staat hat uns die Instrumente genommen, diesen Krieg zu stoppen. Unsere Aufgabe ist es jetzt, dafür zu sorgen, dass die Menschen sich ihres Bürger-Daseins bewusst werden. Damit es keinen nächsten Krieg geben kann.“
Vertrauen in die Politik
Er klingt nicht pathetisch, sondern völlig davon überzeugt, dass er was zu sagen hat, auch wenn der Staat ihm das Sagen verbieten will. Wegen Nawalny. Alle Organisationen des inhaftierten Politikers gelten in Russland als extremistisch. Wegen Ordnungsstrafen, einst die Symbole von Nawalnys Stiftung verwendet zu haben, droht die Wahlkommission Kassjan nun mit Wahl-Aussschluss.
Stadtteilabgeordnete sind vor allem Ansprechpartner*innen, wenn in der Unterführung das Licht nicht funktioniert, wenn Schranken bei Einfahrten klemmen, wenn auf dem Spielplatz im Hof der Mülleimer fehlt. Banale Alltagsdinge, durch die die Menschen durchaus zu verstehen lernen, dass Politik ein Teil ihres Lebens ist. Vielen Russ*innen ist dieser Gedanke über Jahrzehnte hinweg ausgetrieben worden. Sie fühlen sich außerhalb der Politik, außerhalb jeglicher Einflusszone. Wahlen sind für sie „irgendwelche Spielchen irgendwelcher korrupter Typen“.
Nikolai Kassjan ist sich dessen voll bewusst, wie er sich auch allen Risiken seines Engagements bewusst ist. Er wolle in seinem Stadtteil eine Community schaffen, einen Anlaufpunkt, bei dem die Menschen wissen, wie sie reagieren könnten, wenn sie mit dem, was die Stadt- oder die Landesregierung beschlossen haben, nicht einverstanden seien. Eine solche Bewegung sei auch möglich, wenn er kein Abgeordneter werde. Aber als Abgeordneter habe er eben mehr politischen Einfluss.
Rechtlich dürfte er so kurz vor der Wahl eigentlich nicht mehr abgesetzt werden. „Auf Überraschungen jeglicher Art ist man in Russland aber immer eingestellt“, sagt der 24-Jährige und schaut wieder in sein Telefon. Keine Nachricht von der Wahlkommision. Weiter geht’s. Zum nächsten Haus, zur nächsten Wohnung.
Hinweis der Redaktion: Am späten Donnerstag kommt der Anruf. 18 Stunden vor Beginn der Wahl wurde Nikolai Kassjan darüber informiert, dass seine Kanditatur in einem geheimen Treffen – rechtswidrig – abgewiesen wurde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter