: „Regierungsentscheidungen nur im Konsens“
Der Physiker Gerd Poppe gehört der neuen DDR-Regierung als Vertreter der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ an ■ I N T E R V I E W
taz: Ich bin's nun schon fast gewohnt, alte Dissidentenfreunde auf Ministerposten zu sehen. Nach der CSSR und Polen jetzt auch in der DDR. Herzlichen Glückwunsch! Was hat dich bewogen, diesen wenig dankbaren Job zu übernehmen?
Gerd Poppe: Ich bin erst seit ein paar Stunden hier im Regierungsgebäude in der Klosterstraße, meinerseits kann also von Gewöhnung nicht die Rede sein. Zu meinen Motiven: Es ging der gesamten Opposition - sofern man sie noch so nennen kann - darum, Stabilität zu erreichen, damit diese ersten freien Wahlen überhaupt stattfinden können. Es mehren sich die Zeichen für Unregierbarkeit: Auflösungserscheinungen im kommunalen Bereich, die Leute schmeißen einfach den Bettel hin, dann die desolate wirtschaftliche Situation, Streikdrohungen, Auflösung von Arbeitsstrukturen, die Polizei ist nicht mehr handlungsfähig. Wir haben uns die Regierungsbeteiligung allerdings etwas anders vorgestellt. Wir wollten mit klar umrissenen Programmen ein paar Ressorts übernehmen und dort bis zum Mai Arbeit leisten. Zum Beispiel das Innenministerium, wo noch die alten Strukturen dominieren. Nachdem die SPD uns den früheren Wahltermin aufgedrückt hat, ist nicht mehr viel inhaltliche Arbeit drin.
Und wie soll nun die Regierungsarbeit laufen?
Wir erhalten rechtzeitig die Unterlagen, und dann wird für alle Entscheidungen ein Konsens gesucht. Wenn Vertreter des Runden Tisches Einwendungen haben, müssen sie berücksichtigt werden, oder die Vorlage wird nicht angenommen.
Und die laufende Regierungsarbeit Modrows, seine Verhandlungen mit der Bundesregierung?
Ich glaube, Modrow meint es ernst, er will uns nicht nur als Aushängeschild benutzen. Wir werden ihn auch auf seinen Verhandlungsreisen begleiten. Ich fahre z.B. mit nach Bonn das erste Mal nach so vielen Jahren nach Westdeutschland, und dann ausgerechnet in dieser Funktion!
Wie verhält sich die Arbeit am Runden Tisch zu eurer Regierungstätigkeit?
Manche waren der Meinung, Mitgliedschaft am Runden Tisch und ein Ministeramt - in Personalunion - würden sich gegenseitig ausschließen. Ich denke, daß wir den Runden Tisch sogar stärken können, weil wir im Vorfeld der Entscheidungen alle Einflußmöglichkeiten haben. Nichts führt mehr vorbei am Runden Tisch.
Worüber wollt ihr eigentlich noch beschließen?
Wir haben das ursprüngliche Programm mit vierzig Gesetzesvorhaben stark reduziert. Verabschieden müssen wir die beiden Wahlgesetze, dann das Vereinigungs- und Parteiengesetz, wahrscheinlich einige Beschlüsse zur Wirtschaftspolitik. Die Gewerkschaften fordern dringend ein Gesetz, das das Streikrecht und das Aussperrungsverbot festschreibt. Prinzipiell sollen nur die unbedingt notwendigen Gesetze verabschiedet und vermieden werden, daß solche mit langen Folgewirkungen beschlossen werden. So werden wir das Strafrechtsänderungsgesetz bis zu den Wahlen liegenlassen.
Könnt ihr wirklich noch etwas zur Stabilisierung der Lage tun, oder ist es nicht so, daß der drohende ökonomische Kollaps und der Drive zur Einheit alles andere beiseite schieben werden?
Wenn wir glaubten, nichts tun zu können, wären wir nicht in die Regierung eingetreten. Der Runde Tisch genießt einiges Vertrauen, es gibt aber auch Stimmen, die sagen, es sei genug geredet worden. Man muß allerdings die starken destabilisierenden Faktoren sehen. Es gibt Bitterkeit, z.B. wenn wir die berechtigten Lohnforderungen nicht erfüllen können - und es gibt Angst wegen der gefährdeten Sparguthaben.
Vorausgesetzt, die DDR besteht noch ein Weilchen: Glaubt ihr von der „Initiative Frieden und Menschenrechte“, etwas von eurer radikaldemokratischen Programmatik verwirklichen zu können, beispielsweise ein paar Korrekturen gegenüber dem hierarchischen Parteienstaat a la BRD oder mehr garantierten Einfluß sozialer Bewegungen?
Einmal versprechen wir uns etwas davon, daß Bürgerbewegungen selbst die Möglichkeit haben, ins Parlament zu gehen. In welcher Größenordnung und ob überhaupt bei den Märzwahlen, ist natürlich unklar. Die vom Runden Tisch bisher erarbeiteten Verfassungselemente betonen sehr stark die Menschenrechte, sie sehen Formen der direkten Demokratie vor, sie gestehen Bürgerbewegungen und Betroffenen das Recht zu, Beschlüsse der Legislative örtlich oder regional in Frage zu stellen. Die Ausländer haben weitgehende Bürgerrechte. Für die neue Regierung nach dem 6.März wird es nicht leicht sein, von am Runden Tisch im Konsens angenommenen Elementen abzurücken. Der Verfassungsentwurf wird nach den Wahlen ausgearbeitet, und noch in diesem Jahr wird ein Volksentscheid über ihn stattfinden.
Werden künftige Konföderationsorgane Bestandteil der Verfassung sein?
Wir machen die neue Verfassung für die DDR.
Interview: Christian Semler
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