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Reformer im Dilemma

Der Mann zupft an seiner Krawatte, legt sich in die Schonbezüge des Sessels zurück, als sei es der Rücksitz der alten Kaderlimousine Marke „Shanghai“ oder gar „Rote Fahne“, und beginnt, über Chinas Wirtschaftsreform zu referieren, wie er sie am liebsten sieht: „Die Reform ist eine Flutwelle“, meint der dralle, kleine Mitvierziger Lu Yonghua, „es ist schwer, sie aufzuhalten, ohne daß weite Kreise der Bevölkerung sehr unzufrieden werden“. Von Berufs wegen muß er das auch so sehen. Denn Lu ist stellvertretender Abteilungsleiter beim Komitee für die Reform des ökonomischen Systems beim Staatsrat der Volksrepublik China. Das Gremium untersteht direkt dem Ministerpräsidenten Chinas, Zhao Ziyang, der seit dem Sturz des früheren Partei–Generalsekretärs infolge der Studentenunruhen auch Vorsitzender der Kommunistischen Partei ist. Es ist mit jungen, aufgeschlossenen Politikern und Wirtschaftlern besetzt, die in der Vergangenheit eine Vielzahl der Modelle produzierten, die in der Wirtschaftsreform umgesetzt wurden. Für Lu besteht kein Zweifel daran, daß die Politik der Westöffnung in China weitergeht. Und das trotz der Rückkehr der alten Genossen aus den Tagen des langen Marsches in die Führungsetagen der Macht. Lu, der als Lokaljournalist seine Karriere begann und sich dann mit einem Wirtschaftsabschluß an Chinas führender Universität hochdiente, läßt deshalb keinen Versuch aus zu betonen, wo sich die Reform für die Bevölkerung gelohnt habe. Seit 1979 sei das Durchschnittseinkommen der Arbeiter von 644 Renminbi auf heute 1.332 (etwa 680 Mark) im Jahr gestiegen. „Die Leute hatten 1979 nur zwölf Milliarden Renminbi im ganzen Land gespart. Heute sind es 233,7 Milliarden. Darüber hinaus hat jeder noch 1.000 Mark auf der Hand“, findet der Wirtschaftsexperte. „Das Leben ist trotz Reform noch genau so schwer wir früher“, meint demgegenüber ein Beijinger Bürger im Gespräch. „Zwar gibt es mehr zu essen und zu kaufen, doch alles ist viel zu teuer.“ Meinungen wie diese sind im heutigen China weitverbreitet. Die Reformer stecken deshalb in einem Dilemma. Drehen sie die Öffnungspolitik zurück, ist die Bevölkerung unzufrieden, weil es wieder weniger zu kaufen gibt. Forcieren sie die Reform, bekommen sie Ärger, weil die Preise noch mehr steigen. Und Inflation fürchten die Chinesen wie der Teufel das Weihwasser. Auf fünf Prozent belief sich die Inflationsrate in den neun Jahren der Reform im Schnitt. Hinzu kommt in diesem Jahr ein Handelsdefizit, das auf knapp 3,5 Milliarden Mark geschätzt wird. Eine überhitzte Wirtschaft, die den staatlichen Plan aus den Angeln zu heben droht, verengten den Spielraum der Reformer gegenüber ihren konservativen Kollegen auf ein Mindestmaß. Seit Wochen ist deshalb in Chinas Medien eine Sparsamkeitskampagne im Gange. Firmen werden im Fernsehen allabendlich vorgeführt, die trotz Einsparung an Energie und Material mehr produzieren als vorher. Wirtschaftler lassen deshalb keinen Zweifel daran, daß 1987 im Reich der Mitte mehr zurückgedreht wird, als Zhao Ziyang in der letzten Woche glauben machen wollte. So mußte zum Beispiel die Freigabe der bislang vom Staat festgelegten Preise und Löhne wieder auf Eis gelegt werden, und auch der Plan, den Managern der Großbetriebe mehr Entscheidungsfreiheit einzuräumen, wurde nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, dem Volkskongreß zur Abstimmung vorgelegt. „Das heißt“, so stöhnt ein deutscher Firmenvertreter frustriert, „Politik geht weiterhin vor Effizienz, und die Partei spielt in den Betrieben immer noch die erste Geige.“ Die Enttäuschung der Vertreter ausländischer Konzerne kommt nicht von ungefähr. Ihr Auftragsvolumen wird voraussichtlich 1987 20 Prozent hinter den Stand von 1986 zurückfallen. „Die Chinesen“, so der Statthalter eines deutschen Konzerns in Beijing, „sind einfach pleite.“ Das zeige sich schon daran, daß sie auch bereits unterschriebene Verträge am liebsten wieder kippen würden. „Wenn eine aus dem Ausland gelieferte Anlage im Wert von fünf Millionen Mark auch nur einen Kratzer in der Verpackung hat, nehmen sie nicht mehr ab.“ Von 80 deutschen Firmen haben nach seinen Informationen in der letzten Zeit bereits drei ihre Zelte in China wieder abgebrochen. „Wir werden uns an eine andere Geschwindigkeit der Wirtschaftsreform gewöhnen müssen“, ist denn auch das allgemeine Fazit ausländischer Beobachter.

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