Rechter Terror in Berlin-Neukölln: Untersuchungsausschuss ohne Akten
Der Ausschuss schließt die Befragung der Betroffenen ab. Für die weitere Arbeit bräuchte er Akten der Polizei – doch die würden verweigert.
„Ein Großteil der Akten zu dem Komplex der Straftaten von 2009 bis 2021 fehlt“, erklärte Vasili Franco (Grüne), stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses, nach der Sitzung. Damit sei der Kerngegenstand des Ausschusses nicht durch Akten unterlegt. „So lassen sich zum Beispiel die Aussagen von Betroffenen nicht überprüfen.“ Die weitere Arbeit des Ausschusses, etwa wenn es um die in Kürze anstehende Vernehmung von Zeugen aus Polizei und Staatsanwaltschaft geht, sei damit unmöglich.
Vor wenigen Tagen seien Rückfragen aus der Innenverwaltung zu einem Antrag des Ausschusses vom Juli gekommen. „Warum dauert so etwas vier Monate“, fragte sich nicht nur Franco. Niklas Schrader, der für die Linke im Ausschuss sitzt, nannte die Situation „sehr unbefriedigend“.
Die offensichtliche Verweigerung erstaunt umso mehr, als es sich nicht um einen von der Opposition im Abgeordnetenhaus vorangetriebenen Untersuchungsausschuss handelt: Vielmehr wurde er vor allem auf Wunsch der Koalition und hier besonders von Linken und Grünen eingesetzt, nachdem frühere Aufklärungsversuche, etwa vom damaligen Innensenator Andreas Geisel (SPD) eingesetzte Sonderermittler, keine neuen Erkenntnisse erbracht hatten.
Amtshilfe gefordert
André Schulze, Grüne
Welche Akten es gibt, ist daher zum Großteil bekannt, viele Verfahren sind längst eingestellt, auch handelt es sich überwiegend um Material aus Landeseinrichtungen und nicht vom Bund. „Die Senatsverwaltungen für Inneres und Justiz müssen jetzt Amtshilfe leisten und die Unterlagen zeitnah zur Verfügung stellen“, forderte Franco.
Der Untersuchungsausschuss will klären, ob es bei den jahrelangen Ermittlungen Fehler und Pannen gab: Der Fragenkatalog umfasst 60 Punkte. Die Ermittlungen der Polizei waren zunächst erfolglos. Inzwischen wurden mutmaßliche Täter aus der Neonazi-Szene vor Gericht gestellt. Zwei Sonderermittler hatten 2021 festgestellt, die Justiz habe den Seriencharakter der Taten zu spät erkannt und die Staatsanwaltschaft habe ihre Ermittlungen zu früh eingestellt.
Am Freitag schloss der Ausschuss die Befragung von Betroffenen ab. Eingeladen war Christiane Schott, die in der Britzer Hufeisensiedlung lebte und deren Familie seit 2011 immer wieder von Neonazis terrorisiert wurde. Es begann, nachdem sie es gewagt hatte, zwei Männern zu sagen, sie wolle keine NPD-Flyer in ihrem Briefkasten haben. In der Folge wurde ihr Briefkasten gesprengt, Fenster des Hauses zertrümmert und dessen Fassade beschmiert, Reifen an ihrem Auto zerstochen.
Zehn Anschläge habe es auf ihr Haus gegeben, sagte sie am Freitag im Ausschuss; keiner sei aufgeklärt worden. „Wir haben in diesen zehn Jahren den Glauben an Ermittlungsbehörden und Justiz verloren.“ Bis heute seien ihre Töchter traumatisiert von den Ereignissen, sie selbst habe monatelang nicht schlafen können. Im Mai 2021 hätten sie schließlich ihr Haus verkauft.
Die Polizei habe die Ermittlungen oft geradezu verweigert, berichtete Schott. So seien Steine, die auf das Haus und durchs Fenster geworfen wurden, eine Woche lang nicht als Beweisstücke untersucht worden; ähnlich sei die Polizei mit dem kaputten Briefkasten umgangen. Ein Zusammenhang mit anderen Anschlägen in Neukölln sei oft abgetan worden.
Einmal hatte es geheißen, die Polizei montiere eine Kamera im gegenüberliegenden Haus. Als es tatsächlich zu einer erneuten Attacke kam, stellte sich heraus, die Batterie war leer, die Kamera kaputt. Eine neue wurde nicht angebracht. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir ernst genommen worden sind“, sagte Schott.
Eine seltsame Begegnung
Und schilderte schließlich eine besonders seltsame Begegnung. Kurze Zeit nach den ersten Attacken sei ein erkennbarer Neonazi bei ihr am Zaun gestanden und habe sich schließlich vorgestellt. Es kam zu einem langen Gespräch, bei dem der Mann ihr gestand, dabei gewesen zu sein, als Steine auf Schotts Haus geworfen wurden. „Ich rufe die Polizei“, habe sie gesagt. Er brauche keine Angst vor dem LKA zu haben, sei die Antwort gewesen. Der Mann, Christian S., sei doch nur ein harmloser „Mitläufernazi“, habe die Polizei ihr später gesagt.
Doch vielleicht war S. noch mehr: Nicht zum ersten Mal im Untersuchungsausschuss kommt bei der Befragung von Schott die Vermutung auf, der Mann sei V-Mann des Verfassungsschutzes oder sonstwie geschützter Informant gewesen. „Ich habe ähnliche Vermutungen“, sagte Schott darauf angesprochen.
Durch die Befragungen der Betroffenen hätten sich viele Fragen an die Sicherheitsbehörden ergeben, zog das grüne Ausschussmitglied André Schulze am Freitag vor der Presse ein erstes Fazit. Zudem hätte sich ein deutlich umfassenderes und anderes Bild der Entwicklung in Neukölln ergeben, als etwa aus Medienberichten. Viele Taten, so Schulze weiter, seien von der Polizei bagatellisiert und etwa als „Dumme-Jungen-Streiche“ abgetan. „Es gibt viele Hinweise auf gravierende Mängel bei der Ermittlungsarbeit“, ergänzte Niklas Schrader.
Viel Arbeit also weiterhin für den Ausschuss, der in zwei Wochen zur nächsten Sitzung zusammen kommt. Dann sollen zwei Sachverständige gehört werden, unter anderem von der Mobilen Beratung gegen Rechts. Doch was passiert, wenn das Berliner Verfassungsgericht am kommenden Mittwoch die Wahl zum Abgeordnetenhaus 2021 für ungültig erklärt? Der Ausschuss sei ordnungsgemäß eingesetzt und plane auch im Fall von Neuwahlen, die Arbeit fortzusetzen, so Franco. Sofern die Akten kommen.
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