Rechte Aufmärsche in Chemnitz: Schon wieder Sachsen
Nach einem Streit mit Todesfolge in Chemnitz rufen Rechte zu Demos auf. Kurz darauf sind Hunderte unterwegs. Eine Fallrekonstruktion.
Es beginnt, wie so häufig, mit einer Unklarheit, die am Ende hunderte Menschen auf Chemnitz’ Straßen treiben wird. Viele von ihnen – Männer, Frauen, Kinder – laufen an diesem Sonntagabend schweigend hinter der großen Masse her. Andere – meist Männer – skandieren rechtsextreme und ausländerfeindliche Parolen, gehen auf Polizisten los und auf Menschen, die irgendwie nach Ausländern aussehen.
„Ihr Kanaken!“
„Ihr Fotzen!“
„Scheißbullen!“
Das sind einige der Rufe, die auf Videos, die später im Internet kursieren, immer wieder zu hören sind. Und: „Wir sind das Volk!“ „Das ist unsere Stadt!“
Einmal sagt auch jemand: „Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer!“
Als am Montag die Bilder von Chemnitz im Netz kursieren, als die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen aufgenommen hat und Sachsens Innenminister eine Stellungnahme ankündigt, ist der Freistaat Sachsen – gerade erst wegen seines Umgangs mit Journalisten in der Kritik – schon wieder ein Fall für die Bundesregierung geworden. Angela Merkels Sprecher Steffen Seibert sitzt in Berlin vor der Presse und sagt: „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin, das hat bei uns in unseren Städten keinen Platz.“ Schon wieder: Sachsen.
Michael Kretschmer, CDU
Noch ist nicht abschließend geklärt, wie genau der Streit begann und was sich schließlich in der Nacht auf Sonntag gegen 3.15 Uhr in der Brückenstraße in Chemnitz abgespielt hat, eines jedoch ist klar. Am Ende einer Auseinandersetzung zwischen Männern unterschiedlicher Nationalitäten, so bestätigt es später die Polizei, werden drei von ihnen schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Einer von ihnen, ein Mann mit deutsch-kubanischer Herkunft und deutscher Nationalität, ein Tischler, 35 Jahre alt, stirbt dort.
Aufruf von rechter Fangruppe
Gegen einen 23-jährigen Syrer und einen 22-jährigen Iraker beantragt die Staatsanwaltschaft Chemnitz am Montag einen Haftbefehl. Sie seien dringend verdächtig, nach einem Streit ohne Grund mehrfach mit einem Messer auf den Mann eingestochen zu haben.
Dieser Vorfall ist auch der Grund, warum noch am Sonntag in Chemnitz ein Stadtfest abgebrochen wird. Es ist das Geburtstagsfest der Stadt.
Angeblich, so heißt es, wird das Fest aus Pietät abgebrochen, wegen des Toten. Doch tatsächlich drängt zu diesem Zeitpunkt die Polizei auf einen Abbruch – aus Sicherheitsgründen. Denn in rechten Foren und in rechtsextremen Gruppen mobilisieren „besorgte Bürger“ und organisierte Rechtsextreme zu Spontandemonstrationen in die Stadt.
Auch die Ultra-Vereinigung Kaotic Chemnitz ruft im Internet dazu auf, in die Stadt zu ziehen. In einer Botschaft bei Facebook schreibt die rechte Fangruppe mit großer Nähe zur rechtsextremen Szene: „Lasst uns zusammen zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat! Ehre Treue Leidenschaft für Verein und HEIMATSTADT“. Kurze Zeit später sind in Chemnitz Hunderte Menschen unterwegs. Und die Polizei hat die Lage nicht unter Kontrolle.
Deutschlandpolitikum
Zu diesem Zeitpunkt ist der tote Mann aus der vorangegangenen Stadt bereits nur noch ein „Deutscher“. Und die, die ihn umgebracht haben, sind „Ausländer“ – oder wie ein Bundestagsabgeordneter der AfD noch Sonntagnacht an seinen Twitter-Account heften wird: „Todbringende Messermigranten.“ Zu diesem Zeitpunkt berichten Augenzeugen bereits via Twitter davon, dass Rechtsextreme im Schutze der Masse auf mutmaßlich ausländisch wirkende Menschen losgegangen seien, sie beschimpften und bedroht hätten.
Am Montag dann ist der Fall ein Deutschlandpolitikum. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, CDU, schreibt via Twitter: „Es ist widerlich, wie Rechtsextreme im Netz Stimmung machen und zur Gewalt aufrufen.“
Und tatsächlich: Für Montagnachmittag riefen erneut diverse rechte und rechtsextreme Gruppen nach Chemnitz – unter ihnen ein Aufruf der nationalsozialistischen Partei „III. Weg“, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird und sich zuletzt am 1. Mai unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit in Chemnitz inszenierte. Zum Tag der Arbeit hatten die Neonazis, überwiegend Männer, in Chemnitz Rechtsextreme aus ganz Deutschland um sich gescharrt, um für einen nationalen Sozialismus in Deutschland zu demonstrieren.
Zu weiteren Protesten und Mahnwachen für Montagabend riefen auch die Identitäre Bewegung Sachsen, Rechtsextreme vom sogenannten „Tag der deutschen Zukunft“ oder die rechte Kampfsportgruppe Imperium Fight Team auf, deren Mitglieder unter anderem als Hooligans durch den Neonazi-Angriff im Leipziger Stadtteil Connewitz bekannt sind.
Ohne Kontrolle
Auch das Bündnis Chemnitz Nazifrei rief für Montagabend zu einer Kundgebung auf – um sichtbar gegen die Rechtsextremen Stellung zu beziehen. Diverse antifaschistische Gruppen aus Chemnitz, aber auch aus Leipzig und Dresden riefen dazu auf, sich den Rechtsextremen in den Weg zu stellen, damit Szenen wie in Rostock-Lichtenhagen 1992 sich nicht in Chemnitz wiederholen könnten – und der rechte Mob ohne Kontrolle durch die Straßen zieht und Jagd auf MigrantInnen macht.
Die Polizei, die am Sonntag noch überfordert schien und mit deutlich zu wenigen Beamten vor Ort war, kündigte für Montagabend an, über „ausreichende Einsatzkräftezahlen“ zu verfügen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Doku über deutsche Entertainer-Ikone
Das deutsche Trauma weggelacht
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Schwarz-Grün als Option nach der Wahl
Söder, sei still!