: Real-Real-Life-Soap
Wallert-Fieber auf allen Kanälen – die Hintergründe auf den Philippinen aber sind den Sendern zu kompliziert
BERLIN taz ■ Der Sender Sat.1 hatte am Montagabend buchstäblich ein Image-Problem. Einmal sollten die Zuschauer mit Renate Wallert mitfühlen, die erschöpft und vor laufenden Kameras nach langer Geiselhaft den Dschungel verließ. Am gleichen Abend sollte sich das Publikum aber auch am inszenierten Kitzel der Pseudo-Survivalshow „Inselduell“ bei Sat.1 ergötzen.
Die bunten Trailer für das „Inselduell“ und die Bilder zur Wallert-Freilassung gingen munter durcheinander. Der Off-Kommentar zu den Wallert-Bildern („Sie haben den Tagesablauf von ihr und den anderen komplett bestimmt. Auf engstem Raum wartete die Gruppe ständig auf neue Anweisungen“) hätte auch zur Survivalshow gepasst.
Ansonsten spiegelte die Berichterstattung das Spektrum der Sender: Für RTL und die ARD sind die Abu Sayyaf „Moslem-Rebellen“, bei Sat.1 und n-tv fällt auch schon mal das Wort „Terroristen“, das ZDF gibt sich staatstragend und räumt den Statements von Kanzler und Außenminister breiten Raum ein.
Selten wurde eine Entführung so spektakulär in jeder Phase vom Fernsehen begleitet, selten aber blieben auch die öffentlich-rechtlichen Programme so zurückhaltend bei der Recherche von Hintergründen und Zusammenhängen: Die unklare politische Gemengelage auf den Philippinen schreckt ab. Um so mehr setzten alle Sender auf die Inszenierung der Familie Wallert – schließlich war die genauso unvorbereitet und zufällig in das Geiseldrama hineingeraten.
Und auch Sat.1 war mit einer der seltenen Extraausgaben „Nachrichten spezial“ am Ball, schließlich steht hier Wallert-Sohn Dirk als Exklusiv-Informant unter Vertrag.
Große Entgleisungen gab es indes nirgendwo, auch wenn Dieter Kronzucker auf Sat.1 von den philippinischen Vermittlern als „Dunkelmännern“ schwafeln durfte, sich „Terrorismusexperte“ Rolf Tophoven gleich bei mehreren Berlinern Sendern rundreichte und RTL geschmacklose „Spiel mir das Lied vom Tod“-Musik unter die Berichterstattung im passenderweise laufenden Magazin „Extra“ schnitt.
Einhellig setzen alle Sender gemäß dem Trend zur „Real-Real-Life-Soap“ auf viel Atmosphäre aus der Heimatstadt der Wallerts, von den Nachbarn über den Oberbürgermeister bis zum Schützenfest: Göttingen im Freudentaumel. Doch immerhin: Alle Programme berichteteten auch über die offensichtlich als „Entwicklungshilfe“ verbrämten Lösegeldzahlungen für Renate Wallert. stg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen