: Ratloser Richter im Regen
■ Beim Ortstermin in Sachsenhausen widerrief Angeklagter Geständnis
Potsdam (taz) – „Thomas war nicht dabei.“ Ein kurzer, fast nicht hörbarer Satz beim Ortstermin vor der abgebrannten jüdischen Baracke 38. Richter Przybilla vom Bezirksgericht Potsdam schüttelt genervt den Kopf. Er kann nicht fassen, daß Ingo K. schon wieder sein Geständnis komplett ändert. Doch es kommt noch dicker. „Und ich war auch nicht dabei.“ Ingo K. weint. „Ich war nicht der Brandstifter. Ich habe den jüdischen Friedhof in Strausberg verwüstet.“
Eigentlich sollte die kurzfristig am zehnten Verhandlungstag angesetzte Besichtigung des Tatortes in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen mehr Klarheit bringen. Doch das Ergebnis brachte nur Konfusion in den von Anfang an verfahrenen Prozeß.
Dabei lief die Begehung gut an. Ingo K. zeigte mit der rechten Hand auf das Eingangstor und erzählt, wie sie drüber gestiegen seien. „Thomas und ich sind immer ein paar Meter hinter den zehn anderen Skins gelaufen.“ Schließlich seien sie an dem Schild „Arbeit macht frei“ vorbei bis kurz vor die Baracke gegangen. Hier hätte einer der Skins gerufen: „Jetzt können wir den Scheiß auch anstecken.“ Danach seien er und Thomas abgehauen.
Ingo K. steht jetzt direkt neben der abgebrannten Baracke. Es ist schon fast dunkel und regnet in Strömen. Die Prozeßbeteiligten stellen sich eng unter die wenigen Schirme. Es ist kalt. Ingo K. steht in der Mitte. Schon oft gehörte Fragen werden gestellt. „Wer war mit dabei? Warum sind Sie weggelaufen? Was hat H. gemacht?“ Ingo K. wird unruhig, schweigt und beginnt zu weinen. Er stammelt, stottert, und plötzlich bricht es aus ihm heraus, daß weder er selbst noch Thomas H. am Brandanschlag beteiligt gewesen seien. Alles zuvor Erzählte sei erfunden. „Jetzt staune ich aber“, entfährt es seinem Verteidiger, und er beantragt eine kurze Beratung mit seinem Mandanten.
Das Gericht beschließt unterdessen, im Informationsraum der Gedenkstätte weiter zu tagen. Hier erzählt K. später, wie er mit anderen den jüdischen Friedhof in Strausberg geschändet hat. „Wir haben dort Grabsteine umgeworfen“, meint K. Doch das glaubt jetzt kaum noch einer. Dann wird ein Zettel herumgereicht. Die Polizei hat herausgefunden, daß es in Strausberg auf dem jüdischen Friedhof gar keine Grabsteine mehr gibt. Rechtsanwalt Klaus Wendland will nun endlich ein psychologisches Gutachten über seinen Mandanten anfertigen lassen. Richter Przybilla fragt nach: „Herr K., erzählen Sie zwanghaft Geschichten?“ Das käme manchmal schon vor, erwidert Ingo K. Dennoch wirft Richter Przybilla dem Angeklagten vor: „Sie haben uns richtig verscheißert.“
Für den nächsten Verhandlungstag waren eigentlich die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung angesetzt. Dazu wird es nach den Erkenntnissen vom vergangenen Mittwoch nicht kommen. Anja Sprogies
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