Quereinsteiger in der Kirche: Spätberufen zum Altar
Nach Schätzungen werden in den nächsten zehn Jahren 30 bis 40 Prozent der Pfarrer in den Ruhestand gehen. Christopher Schuller hat erst losgelegt.
Auch Kirchen haben Google-Bewertungen. Und es lohnt sich, sie zu lesen, denn zuweilen erzählen sie mehr über das Verhältnis der Deutschen zur Kirche als so mancher Kirchentag. Sankt Johannis in Berlin-Moabit, die evangelische Kirchengemeinde Tiergarten. 54 Rezensionen. Gesamtbewertung: eine solide 3,9. Den Durchschnitt reißt eine Reihe von Rezensionen runter, die sich alle mit demselben Ärgernis befassen: dem nahegelegenen Biergarten, so dicht an einer Kirche offenbar eine Zumutung – für die Biergartengäste, nicht die Kirchgänger, versteht sich. Ein Nutzer schreibt bloß: „Laute Glocken.“ Ein Stern.
Ein anderer: „Stört extrem die Gespräche im Biergarten!!!“, ebenfalls nur ein Stern, dafür drei Ausrufezeichen. Und wieder ein anderer: „Hatte mich auf einen entspannten Abend im Biergarten gefreut…Das Gebimmel der Kirche war so laut, dass ich meine Essensbestellung nicht hören konnte.“ Der besagte Biergarten hat im Übrigen eine 4,5. Ist das der Rang, mit dem sich die Kirche nun auf Deutschlands gesellschaftlicher Relevanzskala begnügen muss?
Doch da sind auch die unzähligen 5-Sterne-Bewertungen von Sankt Johannis, die meisten kommentarlos hinterlassen. In stiller Zustimmung. Womöglich waren das über die Jahre einige derjenigen, die heute hier in den Bankreihen sitzen: Es ist der zweite Advent und die Gemeinde ist zum Gottesdienst in der Kirche versammelt. Fünfzig, sechzig Menschen, alte, junge, Familien mit Kindern und jene, die allein gekommen sind. Eine Gesellschaft, wie sie, sagen wir, auch im nächstbesten Biergarten zusammensitzen könnte.
Als der Mann im Talar auf die Kanzel tritt, murmelt eine Frau ihrem Begleiter zu: „Jetzt bin ich gespannt.“ Sie sind gekommen, um zu singen und zu beten. Und um Pfarrer Schuller zuzuhören, der heute über Sex predigen wird. „Ihr Lieben…“, sagt Christopher Schuller, Ende 30, Vollbart, mit goldenen Ringen in den Ohren und einem metallenen Brillengestell auf der Nase. Dann beginnt er vom Hohelied zu erzählen, jenem Text im „bunten Genre-Salat“ der Bibel, „in dessen ganzer Länge kein einziges Wort für Gott auch nur einmal vorkommt“. Oft habe man versucht ihn umzudeuten. Doch das Hohelied sei stets geblieben, was es ist: „Ein erotisches Gedicht, unmissverständlich sexuell“, sagt Schuller. Stille. Ein dumpfes Räuspern klingt von einer der vorderen Bänke.
Liebe, Erregung, Sex
Dann spricht der Pfarrer weiter. Von der ungesunden Haltung Paulus' zur Sexualität. Von Jesus, dessen Liebesbeziehungen sich stets irgendwo zwischen freundschaftlich und uneindeutig bewegt hätten. „Das Hohelied“, sagt Schuller festlich, „feiert freie Liebe, Lust, Erregung, Sex.“ Sollte es den Rentnern neben ihren Rentnerfreunden oder den Müttern und Vätern neben ihren Teenagerkindern in diesem Moment etwas heiß am Kragen werden, sie lassen es sich zumindest nicht anmerken. Vielleicht haben sie es auch nicht anders erwartet. Vielleicht sind sie nur hier wegen der sehr weltlichen Predigt dieses Pfarrers, der nun fortfährt, über Sexualität und das Christentum zu sprechen, der von Tinder erzählt und davon, was sein Ex-Freund wohl zu ihm gesagt hätte, wenn er ihm gegenüber die Liebesschwüre des Hoheliedes rezitiert hätte.
Es ist nicht leicht, die Bibel, dieses sehr alte Buch, mit der Lebenswelt heutiger Berliner zusammenzubringen. Dessen Antworten auf die existenziellen Fragen, so wird es Christopher Schuller später formulieren, irgendwo zwischen Agrarvorschriften aus dem Bronzezeitalter und architektonischen Bestimmungen für den Tempelbau herauszulesen. Welche Bedeutung kann die Bibel, kann die Kirche haben in einer Zeit, in der – ein weiteres Google-Beispiel – das Wort „Kirche“ in der Online-Suchmaske automatisch als erstes zu „Kirchenaustritt“ und als zweites zu „Kirchensteuer“ ergänzt wird? In einem Jahr, in dem erstmals seit Jahrhunderten mehr als die Hälfte der Deutschen weder römisch-katholisch noch evangelisch ist?
Es ist keine dankbare Zeit, um in Deutschland Pfarrer zu werden. Nach Schätzungen der Evangelischen Kirche in Deutschland werden in den nächsten zehn Jahren 30 bis 40 Prozent der Pfarrerinnen und Pfarrer in den Ruhestand gehen. Und das Interesse junger Menschen an dem Beruf hält sich in Grenzen.
Doch es gibt jene, die dem Trend trotzen. Christopher Schuller ist einer von ihnen. Er ist ein Spätberufener. Anfang des Jahres kam er als Quereinsteiger in den Pfarrberuf. Eigentlich hat er mal Jura studiert, in Oxford, dann am Deutschen Institut für Menschenrechte gearbeitet. Im Sommer 2019 kündigte er. Ende August räumte er seinen Schreibtisch. Am Tag darauf begann er die Pfarrausbildung.
Vom Juristen zum Pfarrer
Vom erfolgreichen Juristen, unterwegs in aller Welt im Kampf für Menschenrechte, zum Gemeindepfarrer in Moabit – wieso? Ein paar Tage nach dem Adventsgottesdienst sitzt Christopher Schuller an einem Tisch im Gemeindebüro neben der Kirche und denkt über die Frage nach. Dann sagt er: „Ich lief durch die Hasenheide, an einem Dornbusch vorbei und plötzlich fing er an zu brennen.“ Stille. Dann lacht der Pfarrer laut. „In der Hasenheide, gar nicht so unwahrscheinlich. Nein, ich kann mich nicht erinnern, dass es den einen Wendepunkt gab. Es hat sich eingeschlichen.“
Es ist nicht so, als verbinde Schuller keine Geschichte mit der Kirche. Aber eigentlich war es eine der Entfremdung. Aufgewachsen in Nashville in den Südstaaten der USA, der Vater Siebenbürger Sachse, die Mutter Amerikanerin mit irischen Wurzeln, die Wert legte auf eine katholische Erziehung ihrer Kinder. Bis zur Firmung habe er es noch durchgezogen, sagt Schuller heute. „Aber als schwuler Teenager fühlte ich mich natürlich ganz persönlich angegriffen von dieser Kirche. Am nächsten Tag war ich raus aus dem Laden.“
Etwa zur gleichen Zeit wird in den USA das Ausmaß des Missbrauchs durch katholische Priester und dessen systematische Vertuschung bekannt. Es ist der Beginn einer großen Desillusionierung, auch in Deutschland. Noch Anfang der 1990er, vor den bald weltweiten Skandalen, gehörten mehr als 70 Prozent der Deutschen einer der beiden großen Kirchen an.
Schuller nennt die Zeit nach der Firmung seine „kirchenfernen Jahre“. Er macht seinen Schulabschluss, geht zum Jurastudium nach England. Damals, sagt er, hätte er sich wohl selbst nicht als gläubig bezeichnet. In den ganz kritischen Momenten, am Vorabend des Examens zum Beispiel, geht er dann aber doch in einen Gottesdienst, schadet ja nicht, denkt er.
Erzählerische Unzulänglichkeiten der Bibel
Erst Jahre später, inzwischen lebt Schuller in Berlin, werden aus den Notfallbesuchen wieder regelmäßige. In den katholischen Gottesdienst geht er nicht mehr. Es sei die evangelische Kirche in Berlin gewesen, die Art, wie man hier Glauben verstehe, die ihn wieder für die Institution interessiert habe. Wieder ist es eine langsame Annäherung. Mit der Zeit, sagt Schuller, habe er mehr wissen wollen; über die intellektuelle evangelische Tradition; zu den Fragen, die ihn als Gläubigen umtrieben. Nur deshalb habe er sich 2015 an der Universität Marburg für das berufsbegleitende Theologiestudium eingeschrieben, aus Neugierde. Rund vier Jahre später eröffnet Schuller auf der Arbeit, vor Freunden und Familie: Er wird Pfarrer. Er schaut in viele fragende Gesichter.
Wäre Christopher Schuller nicht in einer gläubigen Familie aufgewachsen, er wäre wohl nie Pfarrer geworden. Aber hätte er nicht mit der Kirche seiner Jugend gebrochen, nicht Jura studiert, gearbeitet, gefeiert, gedatet, ein völlig diesseitiges Leben in Berlin geführt, wie so viele Menschen seines Alters, und hätte er sich nicht erst dabei gefragt, welchen Platz die Kirche in einem solchen Leben einnehmen kann – er wäre vielleicht ebenso wenig Pfarrer geworden.
Lange waren die evangelischen Landeskirchen nicht so begeistert von den Quereinsteigern, die vor ihrem Theologiestudium schon ein ganzes Leben als Volkswirte oder Manager geführt hatten. Inzwischen nimmt man sie gerne, aus demselben Grund.
Zurück am Tisch des Gemeindebüros. Pfarrer Schuller spricht inzwischen über die erzählerischen Unzulänglichkeiten der Bibel. „Das Wort Gottes hat ein Verpackungsproblem“, sagt er. „Das ist eine wilde Sammlung von Texten, über eine Zeitspanne von 1.500 Jahren entstanden, die alle sehr weit weg sind von unserer Kultur, unseren Erzähltechniken, davon, was wir für überzeugende Weitergabe von Informationen halten. Trotzdem…“, Schuller macht eine Kunstpause, „…ist die Bibel noch relevant. Sie hat uns etwas zu sagen. Aber um ihr Wort auch heute noch zu entfalten, braucht es eine Übersetzungsleistung.“
Man könnte sagen, dass jemand wie Schuller mit seiner Geschichte zum Übersetzer geschaffen ist. Die Menschen müssen nicht die Kirche verstehen, so sieht er das, sondern die Kirche ist es, die sich den Menschen verständlich machen muss. „Meine Aufgabe für die nächsten paar Jahre wird es sein, mir Formate zu überlegen, die begeistern. Bei uns gibt es zum Beispiel gleich nebenan einen Biergarten, in dem haben wir im vergangenen Jahr ein Tauffest veranstaltet. Da kamen 500 Leute und 15 Familien haben ihre Kinder taufen lassen.“ Moment, Biergarten? „Ja. Der gehört zur Kirchengemeinde.“
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