: Pure Regression
betr.: „Jetzt heißt es, erwachsen zu werden“ (Neue Bürgerlichkeit) von Norbert Bolz, taz Kultur vom 17. 1. 06
Linke Bürgerlichkeit klingt angenehm wie „mitten drin“, „der Mitwelt zugewandt“ oder „Verantwortung tragend“, die antibürgerlicher Attitüde wirkt dagegen oft spießig, egomanisch und deshalb blöd. Ist aber geschenkt. Das Blöde an Bolz’ Aufruf „erwachsen zu werden“ ist, dass er altklug gegen grad die gesellschaftlichen Subjekte schnöselt, die aus der bloßen Attitüde längst herausgewachsen sind und mehr Mittendrin, mehr Weltzugewandtheit und mehr Verantwortung (übernehmen) wollen. Zumindest mehr, als es Bolz geheuer zu sein scheint, der seine Mitmenschen Dummköpfe nennt, insofern sie auch „mehrdeutige, ungewisse, hoch verknüpfte und durch Wertkonflikte geprägte Probleme in der Welt“ für lösbar halten. So wirkt Verdrängung und die daraus „erwachsene“ Projektion. Sie ist genau der Mechanismus, der den Bürger Mitmensch zum verachtungswürdigen Spießer macht, der ihn bissig (ja, genau: tierhaft) gegen alles anrennen lässt, das die Illusion der eigenen heilen Welt (Freiheit, Sonderhaftigkeit) zerstören könnte. Aus Verdrängung und Projektion sind die Spieße geschnitzt, an die sich die tapferen Verteidiger des Faktischen ängstlich klammern, nicht ahnend, dass ihre „bohrenden Spitzen“ nur vor der Selbsterkenntnis schützen, dass die frisch geheiligte „Gelassenheit“ nur schnöde Abgestumpftheit ist! Statt – als ein Beispiel – die Herausforderungen nachhaltiger Entwicklung anzunehmen und einen Diskurs zu wagen, wie wir das für das 21. Jahrhundert notwendige Maß an Menschwerdung (durchaus auch der eigenen) erreichen können, predigt Herr Bolz „Respekt vor der Vernünftigkeit des Wirklichen“ und Achtung vor „der Stoppregel des ‚gut genug‘!“ Angesichts der zu lösenden Probleme ist das nicht erwachsen, sondern pure Regression. Flucht aus der Mitverantwortung! Dass das Bewusstsein des Herrn Kommunikationsprofessors „weiß“ (!), dass das „politische Wissen immer (!) ein gut sondierter Glaube (!) ist“, sei ihm gegönnt – so viel Humor muss sein.
HANS-HERMANN HIRSCHELMANN, Berlin