Prozess zu Anschlag in Halle: Das Fanal
Vor neun Monaten versuchte Stephan Balliet die Synagoge in Halle zu stürmen und tötete zwei Menschen. Nun begann der Prozess.
Stephan Balliet hatte in der Synagoge von Halle ein Massaker geplant. Einige der 52 Gläubigen, die in dem Gebetshaus beim Angriff gerade Jom Kippur feierten, den höchsten jüdischen Feiertag, sitzen im Gerichtssaal. Außerdem Menschen, auf die der Attentäter im nahegelegenen Kiezdöner oder auf der Straße schoss, die teils schwer verletzt wurden und denen nur Ladehemmungen der Waffen das Leben retteten. Und Familienmitglieder von Jana L. und Kevin S., die Balliet tatsächlich erschoss.
Einige tragen Kippa, sitzen eng beieinander, geben sich Kraft. Andere haben sich neben ihre Anwälte gesetzt, 21 Opferanwälte sind vor Ort. Und einige besuchten vor dem Prozessauftakt noch eine Kundgebung einer linken Initiative vor dem Gericht. Christina Feist, eine junge Philosophidoktorandin, die beim Anschlag in der Synagoge war, geißelt dort den Antisemitismus in diesem Land. Seit Jahrzehnten werde dieser nicht angegangen. Aus dem „Nie wieder“ seien „leere Worte“ geworden.
Und nun starren sie alle auf Stephan Balliet, der von vermummten Polizisten mit Hand- und Fußfesseln in den Saal geführt wird. Der ansetzt, seinen Hass noch einmal auszubreiten. „Die Juden sind die Hauptursache am weißen Genozid“, ätzt er auch vor Gericht. Teilt gegen Muslime aus, die Deutschland „erobern“ würden. Beklagt, dass man sich in Deutschland nicht mehr frei äußern könne. Für die Nebenkläger ist es kaum erträglich, sie verfolgen es konsterniert.
Balliets Tat hatte einen stundenlangen Ausnahmezustand in Halle ausgelöst. Und sie zielte auch auf Nachahmer: Balliet übertrug sein Attentat live im Internet. Am Dienstag nun begann der Prozess gegen Balliet im Landgericht Magdeburg, im größten Gerichtssaal von Sachsen-Anhalt. Ein Prozess, auf den sich international die Blicke richten.
Ein Einzelgänger, der bei seiner Mutter wohnte
Das wird schon im Morgengrauen sichtbar. Bereits da sammeln sich BesucherInnen und JournalistInnen vor dem Gericht. Sie müssen gleich mehrere Sicherheitskontrollen passieren, um in den streng bewachten Saal C24 zu gelangen. Einige warten stundenlang in der Sonne. Erst mit knapp zweistündiger Verspätung beginnt mittags der Prozess. Eine Organisationsschlappe für das Gericht.
Nachdem zunächst die NebenklägerInnen im Saal Platz genommen haben, wird Stephan Balliet hereingeführt, der Angeklagte. Zuvor wurde er mit dem Hubschrauber aus der JVA Burg eingeflogen. Ein 28-jähriger Arbeitsloser, ein Einzelgänger, der die letzten sieben Jahre bei seiner Mutter in Benndorf wohnte, 40 Kilometer vor Halle.
Nun trägt Balliet Glatze, wie im Tatvideo, dazu eine schwarze Jacke und Jeans. Er starrt regungslos in den Saal, versteckt sein Gesicht nicht. Drei Beamte bleiben die ganze Zeit hinter ihm stehen. Auch auf der Anklagebank muss Balliet die Fußfesseln anlassen – weil er Ende Mai aus der JVA flüchten wollte, eine Mauer überkletterte, dann aber scheiterte. Nun macht er klar, dass er, wie mit seinem Tatvideo, auch den Gerichtssaal als Bühne nutzen will. „Ich würde eine Aussage machen“, kündigt er an, mit rauer Stimme.
Zuvor wird noch die Anklage gegen den 28-Jährigen verlesen. Zweifacher Mord und 68-facher Mordversuch lautet der Vorwurf. Bundesanwalt Kai Lohse rekonstruiert, wie Balliet am 9. Oktober 2019 durch Halle zog, wie er möglichst viele Menschen töten wollte. Aus tiefem Hass auf Juden und Muslime. Balliet verfolgt es ohne Regung.
Aber dann spricht er selbst, den ganzen Nachmittag lang, über Stunden. Er beantwortet frei Fragen von Richterin Ursula Mertens, ohne jede Intervention seiner zwei Verteidiger. Einige Fragen quittiert er nur mit einem hämischen Lachen. Und er sucht immer wieder die Provokation.
Mertens hakt zunächst bei seiner Kindheit nach, zu der Balliet erst nichts sagen will. „Das hat mit der Tat nichts zu tun“, wiegelt er ab. Aber Mertens bleibt hartnäckig. Balliet erzählt daraufhin, dass sich seine Eltern trennten, als er Teenager war. Dass er in der Schule gehänselt wurde. Wie er Chemie studierte, dies aber wegen einer Erkrankung abbrach. Und die Pläne danach? „Hatte ich keine mehr.“
Aber Balliet verweist auf das Jahr 2015, als Zehntausende Geflüchtete in Deutschland Schutz suchten. Für den Rechtsextremisten eine „Eroberung“. Schon da habe er sich ein Gewehr besorgt. Ob er von den Geflüchteten im kleinen Benndorf überhaupt etwas mitbekommen habe, fragt Mertens. Er sei wiederholt angemacht worden, behauptet er. Und zieht dann über Araber und Schwarze her. Wiederholt muss Mertens ihn unterbrechen: Sie dulde keine menschenverachtenden Äußerungen, sonst müsse sie ihn des Saals verweisen.
Balliet nennt das Christchurch-Attentat in Neuseeland, bei dem ein Rechtsextremist 52 Menschen in zwei Moscheen tötete, als Initialzündung. Seine Bewunderung damals: „Da wehrt sich ein weißer Mann, er nimmt es selbst in die Hand.“ Daraufhin habe er mit dem Waffenbau begonnen, sieben Gewehre und Sprengstoff, habe die Synagoge in Halle ausgespäht. Warum keine Moschee, fragt Mertens? Weil es um die Ursachen, nicht um Symptome gehe, sagt Balliet.
Mertens muss Balliets Hetze immer wieder ausbremsen. Dann schildert der Angeklagte seinen Angriff auf die Synagoge, wie er dort mit seinem Mietwagen vorfuhr und an der verschlossenen Tür und Mauer scheiterte. „Ich habe mich lächerlich gemacht.“ Warum habe er keine Leiter dabei gehabt, fragt Mertens. „Gute Frage“, antwortet Balliet. Aber wenn er mit seinen Waffen dort abgestürzt wäre, „wäre das noch lächerlicher geworden“.
Und warum habe er Jana L. erschossen, die ihn zuvor passiert hatte und arglos fragte, was das hier solle? „Eine Kurzschlussreaktion.“ Ein Mord „zur Sicherheit“. Mertens reagiert verständnislos auf die kalte Antwort, fragt ihn nach Mitleid. Da stockt Balliet kurz. Er bedauere den Mord, sagt er. Weil Jana L. ja auch eine Weiße sei.
Kevin S. habe er für einen Muslim gehalten
Am Tag der Tat aber stieg Balliet wieder in seinen Wagen, entdeckte den nahegelegenen Kiezdöner. Auch dort schoss er hinein und tötete Kevin S., der gerade zu Mittag aß und sich noch hinter einem Kühlschrank versteckte. In Döner-Imbisse gingen nur Menschen, die mit Muslimen kein Problem hätten, zeigt sich Balliet auch hier kalt. Und gibt seinen Opfern unverfroren eine Mitschuld: Die Gäste hätten ihn ja „wegdeckeln“ können, als seine Waffen wieder stockten. Kevin S. habe er für einen Muslim gehalten, wegen der „schwarzen, krausen Haare“. Als er bei der Vernehmung erfahren habe, dass dem nicht so war, sei er „hart getroffen“ gewesen. Der Tod von Kevin S. sei bedauerlich, weil er ebenso „ein Weißer“ sei. Balliet floh damals noch weiter und wurde erst nach einem Unfall festgenommen, auf einer Landstraße vor Halle.
Balliets Vortrag ist einer ohne Reue über seinen Anschlagsplan. Über die Opfer spricht er ohne jede Empathie. Länglich beklagt er nur, was alles bei seinem Attentat scheiterte. Die Nebenkläger verfolgen es mit teils vors Gesicht geschlagenen Händen, mit ungläubigem Raunen, andere verlassen zwischendrin den Saal.
Schon in seinen Vernehmungen hatte sich Balliet ungeläutert gezeigt. Und er macht nun erneut klar, was er schon in einer Art Manifest vor der Tat schrieb: Dass er sich als Teil eines „weißen“ Kampfes gegen einen vermeintlichen Bevölkerungsaustausch durch Muslime und Migranten versteht. Es gebe keinen friedlichen Weg gegen einen multikulturellen Staat mehr, behauptet Balliet. Neben Christchurch bezeichnet er auch den Rechtsextremisten, der im August 2019 eine Moschee in Oslo angriff, als „weißen Krieger“. Deshalb, sagt Balliet, habe er die Tat auch gefilmt. „Um anderen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Dass sie auch bereit sind zu kämpfen.“
Die Nebenkläger glauben nicht an einen isolierten Einzeltäter. Man wolle diesen „Mythos“ aufdecken, erklärten mehrere vor Prozessbeginn in einer Stellungnahme. „Wir müssen den Ideologien, die zu der Barbarei führen, die wir in Halle erlebt haben, und all denen, die solche Gewalt in Deutschland und im Ausland verherrlichen, furchtlos entgegentreten.“
Hatte der 28-Jährige sich wirklich unbemerkt radikalisiert? Hinterließ Balliet im Internet keine Warnzeichen? Hätten die Sicherheitsbehörden ihn wirklich nicht stoppen können?
Für die Ermittler hatte sich Balliet allein radikalisiert, auf Mitwisser stießen sie nicht, politische Veranstaltungen hat Balliet nach eigenen Auskünften nie besucht. Aber der Rechtsextremist war nicht allein: Er verbrachte seine Zeit auf Imageboards, anonymen Onlineforen. In einer Szene, die dort rechtsextreme Anschläge feiert.
Handelte der 28-Jährige im Wahn? Die Ankläger verneinen dies, für sie ist Balliet voll schuldfähig. Ein Gutachter attestierte ihm zwar eine Persönlichkeitsstörung. Das Unrecht seiner Taten sei ihm aber bewusst gewesen. Und: Auch künftig sei es wahrscheinlich, dass Balliet schwerste Straftaten begehe. Damit kommt für den Angeklagten neben einer lebenslangen Haftstrafe auch eine Sicherungsverwahrung in Betracht.
Ismet Tekin hätte nichts dagegen. Er ist der Betreiber des Kiezdöners, auch er sitzt am Dienstag im Gericht. Als Balliet in seinem Imbiss mordete, war Tekin vor der Tür, geriet in den Kugelhagel, mit dem der Attentäter auf die Polizei schoss. Seine Hoffnung sei, sagt Tekin, dass der Täter „so bestraft wird, dass keiner sich jemals wieder so etwas überlegt“.
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