Protestierende, die als Symbol fünf Finger der einen Hand und einen Finger der anderen in die Luft halten

Fünf Forderungen und keine weniger – Protestierende in Hongkong Foto: Alda Tsang/imago

Proteste gegen Chinas Sicherheitsgesetz:Der letzte Tag von Hongkong

Am 1. Juli trat Chinas nationales Sicherheitsgesetz für Hongkong in Kraft. Viele Demonstranten dort fragen sich: Was können wir vom Westen erwarten?

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25.7.2020, 16:27  Uhr

Am 30. Juni 2020 ereignete sich eine Apokalypse: Die Apokalypse von Hongkong. An diesem Tag überquerte ich mit der Fähre den Victoria Harbour, vom Stadtteil Central nach Tsim Sha Tsui. Man braucht fünf Minuten vom einen Stadtzentrum ins andere. Es ist 18 Uhr. Sonnenuntergang, aber noch hell. Der letzte Glanz meiner geliebten Stadt. Ein schöner Anblick. Ich rufe mir mal wieder ins Gedächtnis, wie schön die Natur ist. Nur die Menschen ruinieren sie.

Um 11 Uhr abends tritt das neue Sicherheitsgesetz in Kraft, obwohl zu dem Zeitpunkt noch kaum einer die Details dieses Gesetzes kennt. „Ein Land, zwei Systeme“ ist Geschichte, Hongkong ist eine weitere Stadt Chinas.

Das Leben aller Hongkongerinnen und Hongkonger ist von nun an ungewiss. Wer weiß, vielleicht mache ich mich schon schuldig, wenn ich diesen Essay schreibe, vielleicht gilt am Ende das Gesetz für alle Menschen auf der ganzen Welt: Man darf die chinesische Regierung nicht kritisieren.

Vor einem Jahr habe ich auf Facebook Berichte über Protestierende geteilt, die in der Jugendhaftanstalt San Uk Ling gefoltert und vergewaltigt wurden. Ich hatte die Quelle von einem Freund, das Thema war noch nicht in den Massenmedien. Der Post wurde viel geteilt, Reporter haben die Quelle überprüft [bei den Vorwürfen von Vergewaltigung und Folter handelt sich um unbestätigte Berichte. Von brutalen Gewalttaten in San Uk Ling berichten allerdings viele Zeugen; Anm. d. Red.]. Um fortan sicherer zu sein, habe ich einen anderen Namen auf Facebook benutzt. Schon im letzten Jahr fingen viele in Hongkong an, falsche Namen zu benutzen, um nicht überwacht und inhaftiert zu werden. Wenn die Leute sich umbenennen, heißt das auch: Du kannst dir nicht sicher sein, dass dein Facebook-Freund wirklich der ist, den du kennst, oder ein Spion. Freunde von mir haben deshalb ihre Freundschaftslisten ausgesiebt.

Quäle die, die dich hassen

Immer mehr Posts in den sozialen Medien richten sich ausschließlich an Freunde und nicht an die Öffentlichkeit. Beide Änderungen zeigen, dass meine Freunde vorsichtiger sind mit dem, was sie öffentlich sagen und teilen. Man könnte das so sehen: Das totalitäre Regime scheint den Kampf zu gewinnen.

So einfach läuft Geschichte aber nie ab. Am 1. Juli, dem 23. Jahrestag der Übergabe Hongkongs an China durch die Briten, fluteten rund 380.000 Protestierende das Hongkonger Stadt­zen­trum, um ihre Ablehnung des Sicherheitsgesetzes zum Ausdruck zu bringen. Die Hongkonger Polizei hatte den Protest nicht genehmigt, aber die Leute gingen trotzdem auf die Straße.

Es gab zwei unvergessliche Szenen: Ein Motorradfahrer, der eine Flagge mit der Aufschrift „Liberate Hong Kong, revolution of our times“ trug. Er wurde verhaftet und angeklagt. Einige Tage später war die Verhandlung. Der Motorradfahrer konnte nicht kommen. Sein Arzt sagte, der Angeklagte habe zu viele Knochenbrüche (besonders an den Füßen). Er könne nicht einschätzen, wann sein Patient genesen werde. Seit einem Jahr ist das die übliche Strategie der Hongkonger Polizei: Quäle die, die dich hassen. Wir wissen bis heute nichts von dem Motorradfahrer. Ich muss an die Figur Kaneda im klassischen japanischen Manga „Akira“ denken.

Die zweite Szene: Einige Leute hielten ein langes Banner, auf dem stand: „Actually, we fucking love Hongkong“. Viele Leute teilten das Foto und den Slogan.

Oberflächlich gesehen, hat sich nichts geändert
Hongkonger*innen mit Mund-Nasen-Maske stehen draußen Schlange

Schlange stehen für die informelle Vorwahl Foto: Billy H. C. Kwok/getty images

Dabei ist Hongkong eigentlich nicht perfekt. Es ist ein Ort des fortgeschrittenen Neoliberalismus. Die Immobilienpreise galten jahrelang als die höchsten der Welt. Die Menschen leben auf sehr engem Raum mit unglaublich hohen Mieten. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer. Theatergänger und Kunstliebhaber sind in der Minderheit. Die populärsten Berufe sind die in der Finanz- und Immobilienbranche. Aber es ist unser Zuhause. Zu meiner Überraschung opfern die Menschen in Hongkong sehr viel für ihre Stadt; traurigerweise sind einige bereit, auch ihr Leben zu geben oder haben dies schon getan.

Seit meiner Studentenzeit nehme ich an kleinen und größeren Protesten teil. Ich hätte niemals gedacht, dass Hongkongerinnen und Hongkonger so beharrlich sein können und immer wieder neue Widerstandsformen entwickeln.

Und doch: Oberflächlich betrachtet hat sich das Leben seit dem 1. Juli nicht geändert. Viele gehen weiterhin aus, um zu feiern. Die Hongkonger Regierung hat den Slogan „Liberate Hong Kong, Revolution of our times“ als Verstoß gegen das Sicherheitsgesetz gewertet. Also skandiert man Parolen mit ähnlichen Wörtern. Einige halten einfach weiße DIN-A4-Blätter in die Luft, als Zeichen ihres Protests. Musiker haben einen Song namens „Glory To Hong Kong“ geschrieben, um den Furor der Proteste aus dem vergangenen Jahr wieder zu entfachen. Natürlich wird auch dieser Song als Verstoß gegen das Gesetz gelesen. Die Protestierenden haben den Liedtext durch Zahlen ersetzt. Wir haben die Symbole des Widerstands einfach abgewandelt. Wir kennen sie auswendig.

Die KP hat ihr Versprechen nicht gehalten

Wenig überraschend, ist Emigration für Hongkongerinnen und Hongkonger ein Thema geworden. Bei den letzten Versammlungen kam immer die Frage auf: Bleiben oder gehen? Ein Freund, der in einer weiterführenden Schule arbeitet, beobachtet gerade, wie Schülerinnen und Schüler die Schule abbrechen, wie Kolleginnen und Kollegen kündigen. Lehrer mit Englisch als Muttersprache kündigen und verlassen Hongkong.

Hongkong hat viel Erfahrung mit Flüchtlingen. Nachdem die Kommunisten 1949 in China die Macht übernahmen, flohen Chinesen rund dreißig Jahre lang zu Tausenden vor dem Kommunismus in die damalige Kronkolonie. Sie dachten, sie würden eine Weile bleiben und Hongkong dann wieder verlassen. Vor 1997, dem Jahr der Rückgabe Hongkongs an China, gab es eine Welle der Emigration aus Hongkong, doch fand diese vielfach nur auf dem Papier statt. Viele Hongkonger besorgten sich ausländische Pässe als eine Art Versicherung gegen Peking, blieben aber zunächst in der prosperierenden Stadt. Heute ist es anders. Menschen emigrieren aus Hongkong in andere Länder.

Die zweite Generation dieser Emi­gran­tinnen und Emigranten aus Festlandchina, zu der auch ich gehöre, sieht Hongkong nicht mehr als Exil, sondern als Zuhause. Deshalb haben wir bis jetzt gekämpft. Die KP hat ihr Versprechen „Ein Land, zwei Systeme“ nicht gehalten.

Die Hongkonger Skyline mit einer Frau, die mit Atemmaske und Schirm spaziert

Seit 2014 bedeuten Schirme in Hongkong mehr als Schutz vor Regen oder Sonne Foto: Anthony Kwan/getty image

Für die politischen Führer Chinas gehören Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nicht zur chinesischen Kultur. In der chinesischen Geschichte sah sich der Kaiser in der Verantwortung, für Sicherheit und öffentliche Ordnung zu sorgen. Die Bevölkerung verfügte über genau die Freiheit, die der Kaiser ihr zugestand. Der neue Kaiser von China ist Xi Jinping. Er setzt eher diese Tradition fort als die marxistische. Damit richtet er sich allerdings gegen elementare Werte Hongkongs: Wir glauben an Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, wir warten nicht auf einen neuen Kaiser. Wir wollen unsere Interessen ­wahren.

Unter denen, die ans Auswandern denken, gibt es viele, die bis zum letzten Moment in Hongkong ausharren wollen. Vor allem weil sie ihren Widerstand nicht aufgeben wollen. Wir könnten auch in anderen Ländern weiterkämpfen, aber es ist natürlich etwas anderes, mit Gleichgesinnten vor Ort zu sein. Die will man nicht im Stich lassen. Wir fühlen uns fast körperlich miteinander verbunden. Mitprotestierende nennen wir in Hongkong unsere „Hände und Füße“.

Wir glauben an Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, wir warten nicht auf einen neuen Kaiser“

Eigentlich geht die Bewegung über den Widerstand auf der Straße hi­naus. Sie hält die Mehrheit der Gesellschaft zusammen. Die Leute tun alles, was in ihrer Macht steht, um die Bewegung zu unterstützen. Der „Yellow Economic Circle“ ist deshalb entstanden – Geschäfte, die ein gelbes Schild an ihren Laden hängen, um ihre Solidarität mit der Oppositionsbewegung zu zeigen. Das Schild geht zurück auf die gelbe Schleife, die 2014 als Zeichen der Solidarität mit der Regenschirmbewegung getragen wurde. Es wird künftig Formen und Wege geben, den Widerstand im Untergrund fortzuführen. Wenn man das Land verlässt, beraubt man sich dieser Chance. Deshalb werden viele bis zuletzt bleiben. Aber niemand weiß, wann das sein wird.

In einem totalitären System muss man jede Chance nutzen

Bevor sie uns so weit haben, machen wir weiter. Vergangenes Wochenende fand eine basisdemokratische Wahl in Hongkong statt. Mehr als 600.000 Menschen haben an dieser informellen Vorwahl teilgenommen. Einen Tag danach erklärten die Hongkonger Behörden, die Wahl sei illegal – nun, wenn sie es sagen, ist es endgültig.

Dieses Ereignis war eine Vorbereitung auf die Parlamentswahl im September – sie wird ungerecht und scheindemokratisch. Wir wissen sie dennoch zu schätzen, weil man in einem totalitären System jede Chance nutzen muss.

Meine erste Reaktion war: „Wollen Sie mich verarschen, Herr Altmaier?“

Internationale Unterstützung würde uns helfen. Aber ich bin mir nicht sicher, wie Deutschland und die EU es ­damit halten. Ich las kürzlich einen Bericht über den deutschen Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Er verteidigte die bisherige Haltung der deutschen Regierung, die darin besteht, keine klare Haltung zu dem harten Durchgreifen Chinas zu haben. Er sagte: „Wir haben Handelsbeziehungen zu vielen Regionen der Welt, von denen viele eine andere Auffassung von Bürgerrechten haben als wir in Deutschland. Ich war immer überzeugt davon, dass Wandel durch Handel der richtige Weg ist.“

Meine erste Reaktion war: „Wollen Sie mich verarschen?“ Die chinesische Regierung begeht einen Genozid an den Uiguren und foltert in Tibet. Bezeichnet man diese Verbrechen einfach als „andere Auffassung von Bürgerrechten“ wie Altmaier es tut, ist das eine maßlose Untertreibung.

Ein junger Demonstrant hebt ein weißes Blatt nach oben

Ein leeres Blatt, weil jeder Slogan zu gefährlich sein kann Foto: Paul Yeung/Bloomberg/ getty image

Die letzten 30 Jahre haben gezeigt, dass Handelsbeziehungen kein totalitäres Regime dazu bringen, die Menschenrechte zu wahren. China ist der Gewinner der Globalisierung und wurde nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt.

Heute kontrolliert die chinesische Regierung ihre Bürger und die Hongkongs schärfer als damals. Das nächste Ziel ist Taiwan. Der Handel macht es eher schlimmer als besser. Ich verstehe, dass Deutschland Geld verdienen will im Handel mit China. Das stärkt die deutsche Wirtschaft. Aber bitte, Herr Altmaier, tun Sie nicht so, als kämpften Sie für Gerechtigkeit.

Zu meinem Entsetzen betreibt Europa immer noch eine Appeasement-Politik gegenüber der chinesischen Regierung. Ich freue mich aber, dass Deutschland nun Maßnahmen gegen China erwägt, während ich das hier schreibe: Es heißt, der deutsche Außenminister Heiko Maas prüfe Sanktionen gegen China. Auch Großbritannien hat bereits Maßnahmen gegen China ­eingeleitet. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass wir gemeinsame Werte teilen und an die globale Gemeinschaft glauben.

Wenn Europa gen China blickt, erblindet es

Mit den Details des Sicherheitsgesetzes offenbart China seine Absichten. Es will seinen Einfluss ausweiten. Das Gesetz gilt nicht nur für chinesische Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für die aus Hongkong und für Chinesinnen und Chinesen, die eine zweite Staatsangehörigkeit haben.

Die Leute tappen schnell in die Falle der Polarisierung. Europa zeigt sich alarmiert über Trumps Unilateralismus, seine rechte Politik, seine faschistische Sprache. Europa zweifelt deswegen daran, dass die USA die Weltmacht Nummer eins bleiben können. Europa zweifelt, weil es die USA gut kennt, weil beide zur westlichen Kultur gehören. Aber wenn Europa die Augen gen China richtet, erblindet es plötzlich.

Wenn man Trump und die US-Regierung hasst, sollte man es mit der chinesischen Regierung genauso handhaben.

Hongkong hat mit China eine lange, enge Beziehung seit 1945. Zu Maos ­Zeiten hat Hongkong Hilfslieferungen bereitgestellt, während der Westen eine Handelssperre über China verhängte. Während der Marktneuordnung, nach der Kulturrevolution, waren die Hongkonger die Ersten, die in China investierten.

„Solange Menschen in der Stadt sind, gibt es Hoffnung“

Während der chinesischen Bürgerrechtsbewegung 1989 haben 1,5 Millionen Hongkongerinnen und Hongkonger protestiert und Pekinger Studierenden und Protestierenden ihre Unterstützung angeboten. Dreißig Jahre nach dem Tiananmen-Massaker bleibt Hongkong das Finanzzentrum, von dem aus das Geld Chinas in die Welt fließt. Aber die chinesische Regierung will Hongkong zerstören.

Ein deutsches Medium fragte mich eimal: „Wie stellen Sie sich 2047 vor?“ Meine Antwort: „Ich glaube nicht, dass die Kommunistische Partei Chinas länger existiert als bis ins Jahr 2047. Warten wir’s ab.“ Viele Hongkonger haben das Gefühl, dass durch das Sicherheitsgesetz die eigentlich noch verbleibenden 27 Jahre der Hongkonger Autonomie beendet worden sind.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Seit Juli 2019 empfinde ich keine Glücksgefühle mehr. Wenn mir etwas Gutes zustößt, denke ich immer an die „Hände und Füße“, die auf der Strecke geblieben sind. Meine Glücksgefühle werden erst nach der kompletten Befreiung Hongkongs zurückkehren.

Es ist kein Wunder, dass die KP uns hasst, schließlich sind wir Aufständische und machen Ärger. Aber sie können uns nicht zerstören. Das Sicherheitsgesetz ist empörend und grausam. Ich denke an Ciceros Ausspruch: „Solange Leben da ist, gibt es auch Hoffnung.“ Ich würde ihn gern umformulieren: „Solange Menschen in der Stadt sind, gibt es Hoffnung.“

Aus dem Englischen von Jens Uthoff

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