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Prinzipien an sich sind unverrückbar –betr.: „Friedlicher, sozialer, deutscher“ von Christoph Seils, taz vom 25. 5. 99, „Vom Frösteln ins Frieren“ von Nadja Klinger, taz vom 26. 5. 99

Die Unterstellung von Herrn Seils, die Ostdeutschen – ganz abgesehen von dieser wie viele andere unerträglichen Verallgemeinerung – sagten „Nie wieder Krieg!“, um ihrer Identität als Ostdeutsche Nachdruck zu verleihen, ist meiner Ansicht nach an den Haaren herbeigezogen. Überdies zu behaupten, daß Gedanken an den Zweiten Weltkrieg keine Rolle spielten, kann sich doch nicht ernsthaft als Entlarvung eines Vorwands geben.

Ebenso falsch verallgemeinernd wirken die Sätze von der „Idee des Nationalstaats (...), die sich im Westen in der Auflösung befindet“ und der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“. Beides sind beziehungsweise waren offizielle und politische verkündete Positionen, gewiß keine Standpunkte, die in dieser Form aus Umfragewerten gewonnen sind.

Zudem grenzt es schon an Unverschämtheit, einem Kriegsgegner – nicht einem Gegner der Menschenrechte – grundsätzlich und wieder einmal pauschal zu unterstellen, das resultiere ja bloß aus dem SED-Parteilehrjahr. Als ob er sich nicht gerade als Menschenrechts-“Verfechter“ dem Krieg entgegenstellte. Ganz nebenbei stört mich sowieso die Tatsache, daß Herr Seils fähig ist, Werte allein dadurch mit abqualifizierendem Beigeschmack zu versehen, daß sie (angeblich) aus dem Osten kommen.

Außerdem bin ich mir nicht so sicher, daß ein Ostdeutscher dies nicht als seinen Krieg betrachtet. Vielmehr glaube ich, daß gewissen Menschen mehr als anderen bewußt ist, daß wir alle hier Krieg führen – kann es nicht diese Tatsache sein, die einen den Ausweg in den bündigen Parolen suchen läßt, für die der Artikel die Erklärung liefern will?

[...] Der Halbvergleich zwischen den Ost-Kriegsgegnern und der Westfrau hinkt auch mächtig. Kriegsgegner, die man als „Radikalpazifisten“ bezeichnen könnte, vertreten ein Prinzip. Prinzipien an sich sind unverrückbar. Warum also ist das „Bewegungslose“ so verwunderlich? Und kann man sicher sein, daß dies ein spezifisch ostdeutsches Phänomen ist? Das Prinzip der Westfrau, etwa: „Was Rot-Grün macht, kann nicht falsch sein, weil's nicht falsch sein darf“, ist anscheinend ebenso unverrückbar, nur sonst wirklich keineswegs vergleichbar.

Es wirft vielmehr die Frage auf: Warum kann man sich „im Westen“ mehrheitlich mit dem Krieg arrangieren und „im Osten“ nicht? Beziehungsweise: Warum scheint der Krieg da eher ein parteipolitisches Problem (das läßt sich tatsächlich verbreitet finden) und dort ein grundsätzliches zu sein? Die Überlegungen hätten sich folglich vielleicht auf die Frage nach der Bedeutung der Parteien im (politischen) Denken von Ost und West richten können. Martin Stollberg, Coburg

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die auf dieser Seite erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.

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