Prekäre Beschäftigung in Deutschland: Mehr als nur Putzeimer schleppen
Fast ein Viertel aller Jobs erledigen Menschen ohne formale Qualifizierung. Eine Studie zeigt, wie verbreitet die Ausbeutung unter den Betroffenen ist.
„Manche Verschmutzungen kriegst du mit Wasser nicht weg. In der Maschine benutze ich Chemie. Es gibt Fußabdrücke, Stark-Verschmutzungen. Kaugummi kratze ich weg. Aber man kann nicht einfach Chemie auf die Untergründe draufschmieren, da kann man eine Menge falsch machen“, erklärt Ciftici.
Er gehört zu den sogenannten „Basisarbeiter:innen“, die einen Job machen, zu dem man keine formale Berufsausbildung mit Abschluss braucht. Je nach Definition und Datengrundlage machen die un- und angelernten Tätigkeiten einen Anteil von 16 bis 23 Prozent an allen Beschäftigungsverhältnissen aus, heißt es in der Studie mit dem Titel „Die Unverzichtbaren: Menschen in Basisarbeit“ des Progressiven Zentrums, die am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde.
Zur Studie, die eine Meinungsumfrage und Interviews auswertet, gehört auch ein Dokumentarfilm, in dem Ciftici auftritt. Das Projekt des Vereins „Progressives Zentrum“, der sich als „Thinktank“ bezeichnet, wird vom Bundesarbeitsministerium gefördert.
Kampf gegen Klischees
Die Macher der Studie wollen dem Eindruck entgegenwirken, dass es sich bei der „Basisarbeit“ um minderwertige, „niedrigqualizierte“ Arbeit handelt. „Die Basisarbeit ist ein sehr heterogenes Feld“, sagt Studienautorin Johanna Siebert der taz. Das Spektrum reicht von tariflich bezahlter Fließbandarbeit in Großunternehmen mit Betriebsrat und Gesundheitsschutz bis hin zur Ausbeutung in der Dienstleistung, die von Notlagen profitiert.
Die Ambivalenz aus Chancen und Ausbeutung zeigt sich beim Logistikunternehmen Amazon. Dort arbeiteten zu mehr als 95 Prozent Ausländer, sagt Hedi Tounsi, 33, Betriebsrat und Lagerarbeiter im Amazon-Logistikzentrum in Winsen an der Luhe, im Gespräch mit der taz. Auch er selbst, der vor acht Jahren als Flüchtling aus Tunesien nach Deutschland kam, konnte damals bei Amazon im Lager anfangen, weil seine mangelnden Deutschkenntnisse nicht ins Gewicht fielen. „Die Leute hier sprechen Arabisch, Englisch, Spanisch“, sagt er. In den PCs im Betrieb könne man sogar „seine“ Sprache einstellen und dann in der Heimatsprache die Arbeit abwickeln.
Amazon kann sich so immer auf einen Nachschub an neuen Mitarbeitern verlassen, denn die Nachfrage nach Jobs, die keine guten Deutschkenntnisse erfordern, ist gerade bei Geflüchteten groß. „Die Leute bleiben, auch wenn sie sagen, die Arbeit ist sehr hart“, sagt Tounsi. In manchen Fällen sei der Aufenthaltsstatus davon abhängig, dass sie ihren Job behalten, erklärt der Betriebsrat. Dabei ist der Zeitdruck bei Amazon ebenso berüchtigt wie die bedrohlichen Mitarbeitergespräche mit Kranken und die schweren Metallwände auf den Klos, damit die Leute dort nicht zur Entspannung mit Handyempfang surfen können. Tounsi, der für einen Tarifvertrag bei Amazon kämpft, ist Pate des Projekts über die „Basisarbeit“.
Aus den Befragungen und dem Dokumentarfilm geht aber auch hervor, dass sich viele der Basisarbeiter:innen keineswegs als Opfer sehen und sehen wollen. Für Ciftici war das Jobangebot in der Reinigungsfirma eine Chance, da er eine kleine Vorstrafe hatte. Sein Chef sei zufrieden mit ihm, sagt er. Er kann sich vorstellen, dort „bis zur Rente“ zu bleiben.
Arbeit als Chance
Und für die ebenfalls im Film porträtierte Cynthia Würpel ist ihr Job ein Einstieg in die Pflegebranche, der ihr gefällt. „Ich liebe meine Arbeit“, sagt Würfel, 34, im Gespräch mit der taz. Als ambulante Pflegehilfskraft versorgt sie die Bewohner:innen in einer Anlage für „Betreutes Wohnen“ in Magdeburg. 28 Klient:innen sind es pro Schicht, die sie nach und nach in ihren Appartements aufsucht, denen sie die Kompressionsstrümpfe aus- und anzieht, Insulin spritzt, die Mahlzeiten vorbereitet, beim Duschen hilft. „Wir werden so als Arsch-Abwischer gesehen“, sagt sie, „aber das stimmt nicht. Es ist keine Arbeit, die jeder machen kann. Man muss Lust auf Menschen haben“. Im September beginnt sie eine Ausbildung zur Pflegefachkraft.
In der Dokumentation erlebt man Würfels professionelle Freundlichkeit. Wenn sie sich nach kurzer Zeit wieder verabschiedet, sagt sie etwa: „frühstücke für mich mit“ oder „wir sehen uns, weil es so schön war, am Mittag nochmal“, zumindest aber „bis morgen, Du Schöne“. „Viele der Menschen haben kaum noch Angehörige, für die sind wir das Highlight am Tag“, schildert sie.
Allerdings: „Es kommt auf die Details der Belastung in der Arbeit an, da gibt es große Unterschiede“, sagt Studienautorin Siebert. Würpel zum Beispiel arbeitet nicht im Heim, sie muss nicht ständig Patient:innen heben oder wie am Fließband waschen und keine Nachtschichten machen. Und sie habe eine solidarische Chefin, die auch selbst mal einspringe, wenn jemand krank werde, erzählt Würpel.
Auch wenn die Basisarbeit laut Studie überdurchschnittlich viel körperlichen Einsatz erfordert, gibt dies manchem der Beschäftigten Lebensfreude. In der Studie erklärten Befragte, sie schätzten an der Arbeit, dass sie sich „körperlich bewegen“ könnten und in „Kontakt mit Menschen kämen“.
Verunsicherung spürbar
Aber die Unsicherheiten sind groß: Immerhin 16 Prozent der Un- und Angelernten fürchteten laut Studie, dass sie im Krankheitsfall keinen Lohn bekommen, bei den Qualifizierten waren das nur vier Prozent. Die Arbeitsbedingungen unterscheiden sich laut Studie unter anderem auch in Firmen mit und ohne Betriebsrat und mit und ohne Tarifvertrag.
Die Arbeitsbedingungen stehen auch in Zusammenhang mit der politischen Perspektive, wie sich in den Befragungen zeigt. Je unsicherer und weniger selbstbestimmt sich die Beschäftigten fühlten, desto schwächer sei ihr Vertrauen in die Demokratie, erklärt Studienautorin Siebert. Dieser Befund sei „problematisch, weil Basisarbeiter:innen sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich und politisch unverzichtbar sind“.
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