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Postwurf

Sendungen für die Lebenden und Toten  ■  Gabriele Goettle

Hilfe bringt Farbe in ihr Leben“ teilt bereits der Briefumschlag dem Adressaten mit. Daß nicht sein Leben gemeint ist, geht spätestens aus den einliegenden Drucksachen hervor. Die Hilfe verspricht man sich von ihm. Er ist datenmäßig erfaßt als in Frage kommender Spender. Der Überweisungsauftrag für die Bank ist bis auf Kontonummer, Summe und Unterschrift bereits vom Absender ausgefüllt und liegt bei, ebenso wie ein Brief mit namentlicher Anrede. Hierin bittet der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes unterstützt durch Peter Scholl-Latour, Dagmar Berghoff und Robert Lembke - den „Sehr geehrten Herr(n) Dr.Hartung“, ganz persönlich um eine Jubiläumsspende. Damit soll „Menschen, die unverschuldet von Not und Elend betroffen werden“ auch weiterhin Farbe ins Leben gebracht werden. Ein Faltblatt informiert über die diversen Hilfseinrichtungen des Roten Kreuzes und dokumentiert in winzigen Schwarz-Weiß-Bildchen den Moment, wo angeblich das Leben von Hilflosen farbenfroh wird: Surfer werden aus der Seenot gerettet, eine bettlägerige alte Frau wird gepflegt und ein schwarzes Hungerkind nagt an einem Prügel Zuckerrohr. Damit aber auch der dafür verantwortliche Spender nicht zu kurz kommt, wird er mit seinem Einzahlungsbeleg automatisch an einem Gewinnspiel beteiligt. Als erster Preis wird eine achttägige Reise durch Usbekistan, als zweiter 100 x in repräsentativer Kassette (mit je 5 Platten) das große Wunschkonzert mit Peter Alexander und als dritter 50 Exemplare von „Unser Jahrhundert im Bild“ verlost.

Die Galerie Brusberg in Berlin schickt Herrn Rudolf Hartung eine Einladung: „Bitte kommen Sie mit ihren Freunden zur Vernissage der Ausstellung am Samstag, dem 28.Mai 1988, von 10-14 Uhr“. Der Künstler, Kumi Sugai aus Japan -von dem es im Text heißt, er „ist ein Maler, der emotional wie intellektuell kultiviert ist und zudem weltbewandert. Und gleichzeitig ist er aber auch ein Geschwindigkeitsfanatiker, der mit seinem Porsche über die Straßen rast“ - sei, so verspricht der Galerist, persönlich anwesend.

Vom Schwarzwaldsanatorium Obertal kommt ein Hochglanzfaltblatt in Din-A3-Format. Ehemalige Patienten werden darüber informiert, daß nun das Ehepaar Rübartsch die Geschäftsführung übernommen hat. Herr Rübartsch, vormals 17 Jahre lang Direktor des Hotels „Der Europäische Hof“ in Heidelberg, schreibt noch im alten Tonfall des Hoteliers, er würde die ehemaligen Patienten gerne als „Gäste unseres Hauses“ begrüßen. „Getankt“ werden kann, so der Prospekt, „neue Lebenskraft“ mittels Therapien an Gefäßen, Muskeln, Sehnen und Bändern, unterstützt durch Fasten, Wandern, Thymustherapie und diversen Seren. „Jeder hat die Chance alt zu werden und dabei jung zu bleiben“, lautet der Wahlspruch des Chefarztes, der auch zugleich seine volkstümlich gehaltenen medizinischen Ratgeber feilbietet.

Der Pressedienst des Hanser Verlages informiert auf einer schlichten Fotokopie Herrn Dr.R.Hartung darüber, daß der Autor Milorad Pavic im Literaturhaus Berlin liest. Am Mittwoch, den 22.6.1988 um 20 Uhr.

Zuletzt wird Herrn Dr.Hartung von der Süddeutschen Klassenlotterie seine „ganz persönliche Glücksnummer“ zugesandt. In einem Begleitbrief versichert Werner Wessel, staatlicher Lotterie-Einnehmer aus Kassel, er habe für Herrn Hartung vorsorglich ein Los mit der Nummer 0044105/033907 reserviert. Ein aufgedruckter Scheck, der auf den Namen Hartung und die Summe von zwei Millionen Mark ausgestellt ist, unterstreicht den ersten Satz des Briefes: „Eines Tages kann es soweit sein ..., daß ein unauffälliger Herr bei Ihnen klingelt“.

Herr Dr.Hartung ist einer von Millionen, die auf den Mail -Listen diverser Firmen, Organisationen, Verlage und Galerien stehen. Seine Adresse ist durch vielerlei Kanäle gegangen, seine Daten sind in diverse interessierte Hände gelangt. Als ehemaliger Leiter der Zeitschrift 'Neue Rundschau‘ gibt er eine ökonomisch potente und leicht verfügbare Adresse ab. Er kommt in Frage als Spender für's Rote Kreuz, als kaufkräftiger Kunstfreund, als schonungsbedürftiger Patient einer Privatklinik und als Rezensent und Förderer eines Hanser-Autors ebenso wie einer, der hofft, eines Tages könnte es soweit sein. Aber Rudolf Hartung reagiert nicht. Seit Anfang 1985 hat er weder Klingel noch Adresse, er starb am 19.Februar. In der 'FAZ‘ schrieb Reich-Ranicki damals einen Nachruf und zitierte darin einen Hartungschen Satz, den jener in einer Rezension formuliert hatte: „Nachdem er lange geschwiegen hatte, verstummte er.“ R.R. fügte hinzu: „Das gilt nun auch für ihn selber: Von einer schweren Krankheit geschlagen, mußte er seit Jahren schweigen.“

Um die Ursachen des Schweigens kümmern sich die Besitzer der Mail-Listen nicht. Wenn die Daten erst einmal in den Computern gespeichert sind, gibt es kein Entrinnen mehr. Eisern werden Lebende und Tote gleichermaßen als Hoffnungsträger des Umsatzes zusammengefaßt. Rein rechnerisch ist ein gewisser Prozentsatz an Rückläufen garantiert. Fast human erscheinen da Zeiten, in denen noch berücksichtigt wurde, ob jemand reagiert oder nicht. Das Zeitalter der Karteileichen ist vorbei. Zumindest werden sie nicht mehr beseitigt. Heute schlägt das Mißverhältnis zwischen der Haltbarkeit des Adressaten und seiner Adresse nicht mehr zu Buche. Unsterblichkeit kommt billiger als die Aktualisierung des gespeicherten Datenmaterials.

Die absolute Gleichgültigkeit des Absenders der jeweiligen Lage des Empfängers gegenüber führt paradoxerweise zu einer winzigen Verminderung der sozialen Kälte. Die tägliche Leerung des Hausbriefkastens ist immer verbunden mit einer Erinnerung an Rudolf Hartung. Man sieht ihn vor sich, wie er auf dem Weg von der Gartenpforte bis zur Haustür seine Post sortierte und eben alles sofort in den Mülleimer warf, was nun noch für ihn ankommt. Ironischerweise bekommt der Tote drei Jahre nach seinem Hinscheiden immer noch mehr Post, als seine hinterbliebene Witwe.

Und damit wäre die andere Seite der Postwurfsendungen berührt, die des Mangels an persönlicher Post. Ihm widmen sich die Gestalter der Werbebroschüren mit großer Einfühlsamkeit. Mit namentlicher Anrede und dem Hinweis „Für Sie ganz persönlich“, bis hin zur täuschend echt wirkenden gedruckten Unterschrift, wird alles eingesetzt, was im Adressaten die wehmütige Erinnerung an einen wirklichen Brief erweckt. Im isolierten Niemand wittert man mehr verführbare Kaufkraft als im Prominenten, der es sich leisten kann, auf den Schwindel nicht einzugehen.

Diese Art von Sendungen machen den Hauptbestandteil der Post für viele Leute aus. Im Briefkasten suchen sie gar nicht mehr so sehr die Post, sondern danach, ob sie überhaupt noch eine Adresse sind. Die endgültige Bestätigung des sozialen Todes wäre, wenn man zwar einen Briefkasten hätte, aber absolut nichts mehr käme, weder Werbung, noch Amtsschreiben oder Kirchenblatt. Was für ein entsetzlicher Mangel an geselligem Austausch mitten in der Kommunikationsgesellschaft herrscht, zeigt sich daran, daß selbst die nutzloseste Werbebroschüre dem Isolierten noch suggeriert, sie sei eine mögliche Verbindung zur Außenwelt. Angesichts dessen wirkt der von interessanten Briefen und Zusendungen verwöhnte Rudolf Hartung erst nach seinem leiblichen Tod vergleichsweise so einsam und arm, wie es die vom sozialen Tod Bedrohten zu Lebzeiten tun, wenn sie ihre Werbung bekommen.

So sehr auch die Absicht der persönlich adressierten Werbung durchschaut wird, macht sie aus dem Adressaten dennoch in vielen Fällen den erwünschten Kunden. Sie kaufen das Angebotene oder abonnieren Zeitungen und Zeitschriften nur deshalb, damit etwas wirklich eigens für sie Bestimmtes kommt. Auch der Geschäftsverkehr scheint zwischen Bestellung und Reklamation viele Möglichkeiten der Korrespondenz zu enthalten. Um sich vor solchen Kundenkontakten zu schützen, haben die Firmen das „Dankeschöngeschenk“ erfunden. Er bekommt es als Zugabe zur bestellten Ware und ist damit vorbeugend für alles bedankt, insbesondere dafür, daß er sich bis zur nächsten Bestellung als verabschiedet betrachtet.

Eine weitere Möglichkeit, an Sendungen zu kommen, bieten viele Firmen an, indem sie kostenlos Kataloge zuschicken. Der Besteller erhält danach regelmäßig und automatisch den jeweils neuen Katalog zugesandt, ob er nun gekauft hat oder nicht. In Amerika ist die Großzügigkeit begrenzt worden. Seit einigen Jahren kommen die begehrten Kataloge nur dann weiterhin ins Haus, wenn innerhalb eines bestimmten Zeitraumes Waren im Mindestwert von 50 Dollar bestellt wurden, ansonsten droht Katalogentzug.

Daß die Drohungen wirksam sind, zeigt, welche soziale Rolle diese Sendungen spielen. Kataloge und Prospekte kommen ins Haus und treten auf wie gute Freunde, die Bescheid wissen. Die wissen, es gibt Probleme mit dem Geld, dem Backofen, der Badezimmerbeleuchtung, dem Garten oder dem Rücken. Lösungen werden angeboten, verlockende Bilder und Verständnis für die Bezahlung in Raten. Gerade daß zum Beispiel dem datenmäßig erfaßten Kranken nicht nur Angebote für Stützstrümpfe oder Bruchbänder ins Haus kommen, sondern eine ganze Palette traumhafter Offerten, wirkt auf ihn, als ließe man ihm vorurteilsfrei die Wahl. Von der Butterfahrt bis zur Kreuzfahrt, vom Bildteppichknüpfen bis zum Eigenheim wird jedem alles zugetraut. Für die Hebung des Selbstwertgefühles ist die Palette von Angeboten oft letzte meßbare Skala.

Die Erwartung irgendwelcher Kataloge und Werbesendungen ist vielfach an die Stelle des Wartens auf den lang erhofften Brief, die entscheidende Botschaft, die erlösende Nachricht getreten. Diese übriggebliebene Illusion ist lebenswichtig und nährt sich auch dann noch vom Schein, wenn er sich kaum noch die Mühe macht zu trügen. Die als Post verkleidete Reklame wird entgegengenommen, weil in ihr ein Rest von dem enthalten ist, was sonst Verwandte oder Freunde zu tun gehabt hätten. Die beschrifteten Blätter liegen im Kuvert. Irgendjemand hat sie klein und ordentlich gefaltet und hineingesteckt. Der Betrug kommt dem Selbstbetrug entgegen. Die Vergessenen sind in Erinnerung geraten, wenn auch nur auf Grund maschineller Erfassung und Bearbeitung. Am anonymen Vorgang läßt sich gerade noch das Ritual vollziehen, das Finden, Öffnen und Lesen von Post. Sei sie nun von einer Schwarzwaldklinik oder von der Klassenlotterie.

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