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Postindustrielle Sounds

Samstag und Sonntag: Elektro auf der MS Stubnitz  ■ Von Alexander Diehl

Nicht direkt Shanties. Irgendwie scheint es folgerichtig, wenn sich im Programm des Kultur-Trawlers MS Stubnitz, gewissermaßen ja auch eine Art abgewickeltes Indus-trieareal, die so genannt handgemachte Musik in der Minderheit befindet. Viel Raum nehmen dagegen elektronische (Tanz-)Musiken verschiedener Couleurs und ganz besonders das hiesige Geräuschmusik- und Schmunzelexperimental-Netzwerk um die Hörbar oder die Edition Stora und das angeschlossene Storage-Label ein. Die traditionell um Pfingsten herum abgehaltene Barkassenfahrt des Experimentalmusik-Fördervereins Hörbar e.V. endet diesen Samstag an der Stubnitz, und dann wird auf dem gastierenden Sound-Mutterschiff weitergebleept, -geklonkt und gerumpelt. Ab 23 Uhr werden im Rahmen des Geräuschfestivals die Projekte Xyramat und Freie Hand zwischen (selbsterklärt) „elektronischer Langeweile“ und „rhythmischen Erforschungen“ agieren. Notstandskomitee (alias Malte Steiner) wird digitalem Reduktionismus „in frischer Form“ nachgehen. Der Experimental-Altvordere Asmus Tietchens ist als weiterer Beteiligter im Gespräch, von der Verwendung elektrischer Haar- und Bartschneide-Gerätschaften wird gemunkelt. Den Rest besorgen die DJs Lefthand, Drop Out Holk und der MiniDisc-Aggressor Christoph de Babalon. Währenddessen fordern in anderen Teilen der Stubnitz Wolff & DMNK (Carapace/HH), M.C. Glasius, sowie als Gast Sexy Rubber Sole (Worm Interface, Nia Nia/UK) mit Breakbeats zwischen Drum 'n' Bass und angesagtem 2StepGarage zum Tanzen auf.

Am Sonntag wird im Rahmen der mehrfach an Bord stattfindenden Sun Set-Lounge ein charmantes Programm aus dem Stora-Stall den Tag gestalten. Neben KissKiss-BangBang präsentiert der St. Petersburger Tausendsassa Oleg Kostrow einmal mehr seine verspielte Basteleien (“elektronische Fruchtzwerge“) zwischen Experimental- und Kindertheater, Aphex Twin und „jedem Musikstil seit den fünziger Jahren“ – die Vorhut eines „Osteuropahypes“ (Fly-er)? Nicht weit davon entfernt verortet sich Hova Huta, eine der zahlreichen Inkarnationen des umtriebigen Reznicek, der hier den (bedingt glaubwürdigen) musikalischen Hinterlassenschaften eines Onkels aus dem polnischen Stahlstandort Nova Huta nachspürt: Klischees von Seele und Sehnsucht, gegossen in elektrische Polkas, Schwerindus-trie-Schlager und seufzende Balladen mit sich auf dem Schiff ja anbietender Matrosenromantik.

In solchem Sinne bereist der dritte Teilnehmer der Veranstaltung die kanalisierten Datenströme, die allenfalls in Pools, nie aber in Meere münden: Mikron 64 wusste in der Vergangenheit wiederholt mit seinen spartanischen Elektro-Stücken die Herzen (und vereinzelt Lachmuskeln) anwesender SysOps und Kryptographie-ExpertInnen (sowie aller anderen auch) in Bewegung zu setzen. Schaltkreise mit Liebeskummer und das Treiben von Programmierern nach Feierabend, von einer Old School-Heimcomputer-Sprachausgabe in Texte (und neuerdings auch Oszillogramme) übersetzt, von trockenem Atari-Geticke und 80er-Jahre-Synthies und – live immer besonders hervorzuheben – aus alten Videospielen montierten Clips begleitet. Eine weitere äußerst charmante Angelegenheit.

Weniger beschaulich wird sich der Sonntagabend darbieten, wenn das britische Label Stay Up For-ever „Kult London Acid Trance Techno sound of Liberator“ vorlegt. Four-to-the-Floor-DJs sind Chris, Aaron und Julian. Dagegen hält die ebenfalls aus London angereiste DJ und Produzentin Sexy Rubber Sole, „Geheimtip in Sachen Jungle“, die mit diversen Crew-DJs mit Dub und Elekronika auf Deck das Wochenende ausklingen lässt. Never mind La Paloma.

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