: Postbote außer Dienst
■ Michael Jordan entscheidet das erste Match des NBA-Finales für Chicago
Berlin (taz) – Es war ein peinlicher Moment für den „Most Valuable Player“ (MVP) der diesjährigen NBA-Saison. Beim Stande von 82:82 stand Utahs Karl Malone knapp neun Sekunden vor Ende der ersten Partie des NBA-Finales gegen die Chicago Bulls an der Freiwurflinie. Kurz zuvor hatten die Zuschauer im United Center von Chicago mit „MVP, MVP“- Sprechchören den Mann gefeiert, der ihrer und keineswegs nur ihrer Meinung nach auch in dieser Spielzeit der beste Basketballer der NBA war: Michael Jordan. Doch weil es den Journalisten langweilig ist, immer denselben Namen auf ihren Stimmzettel zu schreiben, entschieden sie sich mit knapper Mehrheit für Malone, so wie sie 1993 aus ähnlichen Beweggründen Charles Barkley gewählt hatten. Eine zweischneidige Sache für die solchermaßen Geehrten, denn einem Michael Jordan kommt man nicht ungestraft ins Gehege. Vor vier Jahren nutzte dieser die Finalserie gegen die Phoenix Suns zu einer Demonstration seiner vielseitigen Fähigkeiten, und dazu, seinem Kumpel Barkley auf der Gegenseite vor Augen zu führen, wem der MVP-Titel in Wahrheit gebührte.
Und nun stand Karl Malone an der Linie und hatte die Chance, eine ähnliche Demütigung wenigstens für dieses Match abzuwenden. Aber: „Der Postbote trägt am Sonntag nicht aus“, wie ihm Scottie Pippen in Anspielung auf seinen Beinamen „The Mailman“ zuraunte. Beide Freiwürfe tupften an den Korbrand, und es kam, wie es kommen mußte. Auf der Gegenseite erhielt Jordan von Toni Kukoc den Ball, ließ geruhsam die Uhr herunterlaufen und setzte den Wurf mit der Schlußsirene zum 84:82 für die Bulls in den Korb. Ein wahrer MVP ist eben der, welcher große Spiele entscheidet. Und damit hat Karl Malone seine Schwierigkeiten. Schon im letzten Jahr waren es seine verpaßten Freiwürfe, die Utah gegen Seattle den Finaleinzug vermasselten.
Jordans siegbringender Korb war der Höhepunkt einer äußerst mäßigen Partie. Schon in der Serie gegen Miami hatte es so ausgesehen, als sei es die neue Taktik der Bulls, für möglichst lausige Spiele zu sorgen und diese am Ende dank Jordan zu gewinnen. Sowohl Chicago Bulls als auch Utah Jazz gehören eigentlich zu den Teams, die sehr viele Punkte erzielen, mit rigoroser Defensive wurden die Trefferquoten am Sonntag jedoch beiderseitig reduziert. Dabei zielte Utah fast die ganze Zeit etwas besser, aber vor allem der fußkranke Scottie Pippen sorgte mit seinen 27 Punkten dafür, daß die Bulls nicht abgehängt wurden. Jordan hielt sich, obwohl ihm die Unfehlbarkeit früherer Jahre abhanden gekommen ist, mit 31 Punkten ebenfalls recht gut.
Seine letzten beiden Zähler begeisterten dann sogar ihn selbst: „Ich kann die Situation gar nicht richtig fassen. Jeder, der das Spiel in der Halle oder im Fernsehen sieht, weiß, daß du den Ball bekommst, daß du den Wurf versuchst, und du kommst trotzdem damit durch. Ein unglaubliches Gefühl.“ Bleibt die Frage nach dem besten Spieler. „Was wollt ihr von mir hören?“, grummelte Malone, der schon bei seiner Wahl zum MVP bescheiden kundgetan hatte, er habe sich den Titel nur geborgt. „Offenkundig ist es Michael Jordan, egal was Karl Malone sagt.“ Morgen abend hat er es beim zweiten Aufeinandertreffen, wiederum in Chicago, in der Hand, den Gegenbeweis anzutreten. Vielleicht hat der Postbote ja mittwochs Dienst. Matti Lieske
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