: Polizeistrategen und Schieber gen Osten?
■ Experten-Tagung zu organisierter Kriminalität in Europa/ BKA-Chef: Ex-DDR ist idealer Nährboden
Wiesbaden (taz) — Ein Boom der organisierten Kriminalität steht den neuen Bundesländern im Osten ins Haus. Wie ein roter Faden durchzog diese düstere Prognose die Jahrestagung des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden, wo sich von Dienstag bis Freitag rund 400 Polizeiexperten und Juristen aus dem In- und Ausland über „Organisierte Kriminalität in einem Europa durchlässiger Grenzen“ austauschten. Dominierten bislang stets der bevorstehende EG- Binnenmarkt und der Abbau der Schlagbäume im europäischen Westen die Überlegungen der Polizeistrategen, so richtet sich deren Blick unter dem Druck der aktuellen Umwälzungen neuerdings verstärkt gen Osten. Dort sind Schieber und Schummler aus dem Westen bereits mächtig im Geschäft — und den Fahndern eine gute Nasenlänge voraus.
Berichtet wurde von Erkenntnissen, wonach kriminelle Netzwerke aus Westdeutschland bereits in mehreren Großstädten der Ex-DDR Knotenpunkte der klassischen Rotlicht- Branchen Zuhälterei und illegales Glücksspiel, aber auch im wild wuchernden Immobilienmarkt geknüpft haben. Den Dschungel aus wirtschaftlichem Chaos, desolater Verwaltung und allgemeiner Orientierungslosigkeit in der derzeitigen Übergangsphase machte BKA-Chef Zachert als „idealen Nährboden“ für alle Formen der organisierten Kriminalität aus. Demgegenüber verbliebe nur eine „knappe Zeit“ für „Gegenmaßnahmen“, etwa den Aufbau „stabiler Polizei- und Strafverfolgungsstrukturen“. Daß seine Fahnder dereinst auch überlebte Seilschaften der Stasi unter dem Vorwurf der kriminellen Vereinigung ins Visier nehmen könnten, bezeichnete Zachert als „vorstellbar“.
Relativ hilflos stehen derzeit auch die Sicherheitsexperten der Sowjetunion der Expansion krimineller Wirtschaftszweige gegenüber. Professor Gurow vom sowjetischen Innenministerium berichtete von der Zunahme „mafiaähnlicher Blöcke“ in seinem Land. Als ein enormes Hindernis bei deren Bekämpfung habe sich „der neue Geist der Souveränität“ in den Republiken erwiesen; der führe nämlich dazu, daß die Dienststellen dort zunehmend die Kooperation und den Informationsaustausch mit Moskau verweigerten.
Bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, vor allem des Drogenhandels setzen die Polizeiplaner weiterhin auf die gesetzliche Verankerung der umstrittenen verdeckten Ermittler sowie neue griffige Strafvorschriften gegen Geldwäscherei und zur Abschöpfung illegaler Gewinne. Kritik erntete hier der Bonner Gesetzgeber. Wegen Differenzen innerhalb der Koalition hat der Bundestag erst kürzlich ein neues Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität auf die nächste Legislaturperiode verschoben.
Die Realisierungschancen des in der öffentlichen Diskussion vielzitierten Projektes „Europol“, also einer gemeinsamen Polizeizentrale der EG-Staaten, werden von den Experten eher skeptisch eingeschätzt. Vorerst soll das europäische Regionalbüro von INTERPOL ausgebaut werden. Der Datenaustausch soll ferner über das Schengen-Informations- System (SIS) forciert werden, dessen Zentrale demnächst in Straßburg eingerichtet wird.
Eine „Keimzelle“ für Europol sieht BKA-Chef Zachert allerdings in einem Europäischen Zentralamt zur Bekämpfung der Drogenkriminalität, mit dessen Einrichtung der oberste Kripo-Mann „noch in diesem Jahrzehnt“ rechnet.
Daß selbst gestandene Kriminalexperten im Umgang mit der Kategorie „organisierte Kriminalität“ noch unsicher sind, zeigte die Frage aus dem Plenum, ob denn auch die Umtriebe der Hamburger Hafenstraße oder der Berliner Besetzerszene als „OK“ zu werten seien. Sie sind es nicht! Dem BKA-Präsidenten Zachert fehlen dort zwei wichtige Definitionsmerkmale: „Gewinnstreben“ und „geschäftsmäßiges Vorgehen“. thosch
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