Polizei „verliert“ Kind: Abschieben um jeden Preis?
Polizei trennt Geschwister bei Abschiebung, 11-Jähriger danach stundenlang vermisst. Flüchtlingsrat sieht wachsende Härte gegenüber Roma aus Moldau.
In der Containerunterkunft Dingolfinger Straße wollte die Polizei am frühen Morgen eine Familie aus Moldau abschieben. Die Eltern waren nicht da, nur zwei Kinder. Die Beamten nahmen die 18-jährige Tochter mit, den 11-jährigen Sohn „übergaben“ sie den Nachbarn. Im Verlauf des Vormittags verschwand der Junge, die Heimleitung rief Polizei und Jugendamt, doch auch nach Durchsuchung des ganzen Heims blieb er vermisst.
Später konnte die Polizei das Handy des Jungen in Spandau – am anderen Ende der Stadt – orten. Die Eltern kamen zurück ins Heim, der wieder aufgetauchte Junge „wurde einem Kinderarzt in der Rettungsstelle des Sana Klinikums vorgestellt, weil er verständlicherweise unter Schock stand“, erklärte eine Sprecherin des Landesflüchtlingsamts (LAF). Die 18-Jährige wurde offenbar alleine abgeschoben.
Der zuständige Staatssekretär der Integrationsverwaltung Aziz Bozkurt (SPD) zeigte sich auf taz-Anfrage „tief schockiert“. Auch bei rechtmäßigen Abschiebungen müssten „humanistische Grundwerte eingehalten“ werden, sagte er. „Was rechtlich korrekt sein mag, ist menschlich nicht vertretbar. Zu diesem Vorfall haben wir Diskussionsbedarf, so ein Vorgang darf sich nicht wiederholen.“
Problematische Einstellung
Doch hat die Polizei überhaupt „rechtlich korrekt“ gehandelt? Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat Berlin bestreitet das. Sie sagt: „Da die Erziehungsberechtigten nicht anwesend waren, hätte die Polizei entweder das Kind in Obhut nehmen oder die volljährige Schwester beim Kind belassen müssen.“ Es einfach „irgendwo“ zu lassen, sei unverantwortlich, ein solches Vorgehen zeuge zudem von einer problematischen Einstellung der Polizist*innen. „Hier wurde offenbar nach dem Motto gehandelt: Bei einem ausländischen Kind, dessen Eltern ausreisepflichtig sind, müssen wir nicht die gleichen Standards wie bei deutschen Kindern anwenden. Antiziganismus könnte hier eine Rolle gespielt haben, anders ist das kaum zu erklären.“
Barnickel erkennt eine Systematik in Fällen wie diesem. Auch wenn im Zuge von Abschiebungen selten Kinder „verloren“ gingen, gebe es inzwischen regelmäßig Familientrennungen – vor allem bei Abschiebungen nach Moldau. Aus dem „Armenhaus Europas“ fliehen vor allem Roma, die dort systematisch diskriminiert werden und massiv von den Konsequenzen des Kriegs in der benachbarten Ukraine betroffen sind. Dennoch werden ihre Asylanträge immer abgelehnt.
Schon während des sogenannten Winter-Abschiebestopps ist es laut Barnickel zunehmend passiert, dass nur ein Elternteil von der Polizei mitgenommen wurde, auch schwangere Frauen, auch Kranke, während der andere Elternteil mit Kindern zurückgelassen wurde. Bisweilen seien sogar beide Eltern anwesend, doch die Polizei nehme trotzdem nur den Vater oder die Mutter mit – offenbar auf Anweisung des Landesamts für Einwanderungen, das jede Abschiebung einzeln anordnet. „Um die Effizienz bei Moldau-Abschiebungen zu steigern, werden wohl teilweise gezielt Familientrennungen vorgenommen, um Familien unter Druck zu setzen und sie zu zwingen, Berlin zu verlassen, damit sie wieder als Familie zusammen sein können“, sagt Barnickel.
Für die Betroffenen seien Familientrennungen traumatisch, so die Beraterin, in deren Sprechstunde immer mehr Verzweifelte vorsprechen. „Mütter, die plötzlich mit ihren Kindern alleine dastehen, brechen zusammen, Kinder können aus Angst, alleine zurückzubleiben, nicht mehr zur Schule gehen.“ Integrationsfortschritte würden so zunichte gemacht.
SPD fährt offenbar härteren Kurs
Womöglich ist genau dies das politische Kalkül? Der Kurs der SPD-geführten Innenverwaltung der letzten Monate legt den Gedanken nahe. Im alten Koalitionsvertrag von Rot-Grün-Rot hieß es, dass Familientrennungen bei Abschiebungen „zu vermeiden“ sind, allerdings waren sie laut Verfahrenshinweisen des LEA möglich. Im Vertrag von CDU und SPD heißt es dann noch unverbindlicher: „Eine Trennung von Familienangehörigen soll bei Rückführungen in der Regel vermieden werden.“ Doch schon in der Endphase von R2G „hat sich die SPD offenbar härter gemacht beim Thema Rückführungen“, so Barnickel.
In der Tat war der Winter-Abschiebestopp ab Mitte Dezember, der bis Ende März galt, nur auf Drängen von Grünen und Linken zustande gekommen, Innensenatorin Iris Spranger (SPD) wollte zunächst nicht. Zudem galt der Stopp nicht für „Rückführungen“ in EU-Länder und nicht für „Straftäter“, worunter alle zählten, die zu 50 Tagessätzen oder mehr verurteilt worden waren. „Das ist eine Bagatellgrenze, schon für dreimaliges Fahren ohne gültiges Ticket oder einen kleinen Ladendiebstahl kann man das bekommen“, betont Barnickel.
So wurden 157 Menschen trotz „Abschiebestopp“ abgeschoben, davon waren 46 moldauische Staatsangehörige. Das Gebot, Familien nicht zu trennen, habe bei „Straftätern“ und beim zweiten Abschiebeversuch am Ende von R2G nicht mehr gegolten, sagt Barnickel. Seit Ende des Winterabschiebestopps gibt es fast wöchentlich wieder Abschiebungen nach Moldau.
Dass es dabei „regelmäßig“ zu Familientrennungen kommt und „das Vorgehen der Vollzugsbehörden immer vehementer und gewaltvoller wird“, haben Flüchtlingsrat und andere Organisationen kürzlich in einem offenen Brief an Spranger kritisiert. Die Unterzeichner, darunter der Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, weisen zudem darauf hin, dass Deutschland aufgrund der systematischen Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus eine besondere historische Verantwortung habe.
„Besonders schutzwürdige Gruppe“
Wie schon die Unabhängige Kommission Antiziganismus in ihrem Abschlussbericht im Juni 2021 fordern auch sie, dass „die in Deutschland lebenden Roma aus historischen und humanitären Gründen als eine besonders schutzwürdige Gruppe anzuerkennen sind“.
Ein Sprecher der Innenverwaltung erklärte kurz vor Redaktionsschluss, zum aktuellen Fall habe er noch keine Informationen. „Die Vorhalte wiegen jedoch schwer, sodass wir unmittelbar eine Stellungnahme eingefordert haben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?