: Politische Zwerge
■ Die G7 haben gezeigt, daß sie auch Zeitung lesen
Ein Drittel der Weltbevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist arbeitslos. Tendenz? Seit 20 Jahren steigend. Lösungen? Nicht in Sicht. Das Thema ist alles andere als unwichtig für einen internationalen Gipfel. Eher viel zu groß für anderthalb Tage. Und viel zu lange vernachlässigt.
Doch das zweitägige Treffen der 19 Minister aus sieben Ländern im französischen Lille war keine adäquate Antwort auf das Problem. Schon das Vorgeplänkel war enttäuschend, vor allem die Absage des deutschen Finanzministers Theo Waigel. Der löste mit seiner Entscheidung eine Kettenreaktion in den anderen G7-Mitgliedsländern aus. Die übriggebliebenen Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsminister mußten danach über Lösungen einer gigantischen Misere beraten, ohne irgendwelche staatlichen Mittel zur Verfügung zu haben.
Doch so weit kam es erst gar nicht. Die Minister beschränkten sich auf den Austausch von Informationen, die jeder, der regelmäßig Zeitung liest, auch kennt. Die US-Amerikaner berichteten, daß sie in vier Jahren vier Millionen – wenngleich oft miserabel bezahlte – Arbeitsplätze geschaffen haben. Die Japaner lobten die Corporate identity in ihren Unternehmen, wo der einzelne Mensch in der Regel sein ganzes Leben verbringt. Die Deutschen stellten die Vorzüge ihres „dualen Systems“ mit einer systematischen Berufsausbildung heraus. Und die Franzosen verwiesen auf ihre staatlich garantierten Mindestlöhne und andere Rechte.
Gemeinsame Schritte, gemeinsame Schlußfolgerungen, gemeinsame Projekte entwickelten die Minister in Lille nicht. Die griffige Formel eines „dritten Weges“, den Frankreichs Präsident Jacques Chirac in seiner Eröffnungsrede ins Spiel gebracht hatte, fand am zweiten Tag keinerlei Anklang. Auch die Einführung von „sozialen Kriterien“ in die Geschäfte der G7 stieß auf kein positives Echo.
Die sieben wirtschaftlichen Riesen bewiesen in Lille wieder einmal, daß sie nur politische Zwerge sind. Die Teilnehmer haben ihre nationale Souveränität, ihre Besonderheiten und Empfindlichkeiten verteidigt und damit eine besondere Tradition der G7 fortgesetzt: Der Welthandel darf sich ungehindert entfalten, und „das Soziale“ wird der Selbstregulierung überlassen. Dorothea Hahn, Lille
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