Politik: Der Zauberer von Öz
Cem Özdemir zieht als als grüner Spitzenkandidat in die Landtagswahl 2026. Mit dem großen, aus heutiger Sicht nur schwer erreichbaren Ziel, seiner Partei weiter Platz eins in Baden-Württemberg zu sichern.
Von Johanna Henkel-Waidhofer
Er ist vieles, geradezu Gegensätzliches: beliebt, beschlagen, für Skeptiker auch Herzeige-Gastarbeiter-Sohn mit flotten Sprüchen („Ich bin gut zu Fuß, aber nicht eingewandert“). Er ist versiert im Umgang mit massiven Protesten, erfahren im Umgang mit eigenen kapitalen Fehler. Er weiß zusammenzuführen und zu polarisieren. Gegenwärtig läuft sich Cem Özdemir warm, der grüne Bundeslandwirtschaftsminister bereitet sich vor auf die neue Rolle des potenziellen Ministerpräsidenten, testet Themen, nicht zufällig in Baden-Württemberg, im Netz, regelmäßig in Interviews.
Am vergangenen Wochenende zum Beispiel mit der Jüdischen Allgemeinen, in dem er nicht nur über Tierwohlabgabe oder Agrardiesel spricht, sondern ebenso über Nahost, Migration oder als Türkei-Kritiker seit langer Zeit über die tausend Erdogan-treuen Ditib-Moscheen in Deutschland. Aussagen querbeet sind sein Stil geworden.
Schon mit 16 Jahren, 1981, gründet der Sohn einer türkischen Mutter und eines tscherkessischen Vaters die Grünen in seiner Heimatstadt Bad Urach mit. Drei Jahre später kandidiert er – als erster seiner Art und ohne Erfolg – für den dortigen Gemeinderat. Er lernt Winfried Kretschmann kennen, auch die damals frischgebackenen Landtagsabgeordneten Fritz Kuhn und Rezzo Schlauch, wird in den Landesvorstand der noch neuen Partei gewählt. Als der Realo 1994 erstmals in den Bundestag einzieht, sitzt der noch in Bonn.
Ecken und Kanten
Viele Ereignisse prägen ihn, die Nachgeborene nur aus Geschichtsbüchern kennen: der Nato-Doppelbeschluss, die Demonstrationen in Mutlangen, Tschernobyl, die Wiedervereinigung und der Umzug von Bundesregierung und Bundestag in die neue Hauptstadt Berlin. Um dem türkischen Militärdienst zu entgehen, wechselt er rechtzeitig die Staatsbürgerschaft und erfährt die Odyssee von Aus- und Einbürgerung am eigenen Leib. Früh engagiert er sich der heute 58-Jährige für eine Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechts, für mehr Sprachförderung in der Grundschule, für eine bessere, vor allem politische Integration von Neuankömmlingen.
Auch aktuell sind Fragen der Migration Beleg dafür, wie offensiv Özdemir Ecken und Kanten zeigen will. In einem Gastbeitrag für die FAZ argumentiert er unter anderem mit den Empfindungen seiner vor dem Abitur stehenden Tochter. Wenn die in der Stadt unterwegs sei, „kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden“. Prompt zieht er einmal mehr Pfeile auf sich aus ganz verschiedenen Richtungen – wie 2011, als er eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes ins Gespräch brachte oder als er schon lange vor Ausbruch des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine schärfere Sanktionen gegen Wladimir Putin und mehr Zurückhaltung der deutschen Wirtschaft forderte.
Viele Kommentator:innen im Netz sind diesmal „vom Rechtsruck in der Ausländerpolitik“, wie einer schreibt, entsetzt. Der solcherart Kritisierte selbst erzählt von Menschen, die ihn auf der Straße aufhalten, um ihm ausdrücklich zuzustimmen. Das wiederum kann gut ein Grund dafür sein, warum er speziell von der Union verbale Prügel bezieht. Der Heilbronner CDU-Bundestagsabgeordnete Alexander Throm sieht die Tochter instrumentalisiert, nennt die Äußerungen „geradezu abstoßend“. Sogar die nicht eben links-grün-verdächtige „Neue Züricher Zeitung“ reagiert. „Was soll daran abstoßend sein“, will das Schweizer Blatt wissen, „der Tochter, mit ihrer ausdrücklichen Einwilligung, eine Stimme im politischen Diskurs zu geben und ihre Sorgen, die auch die Sorgen des Vater sind, zu äußern?“ Das scheine „für einen Unionspolitiker zu realitätsnah zu sein“.
Jedenfalls liefert Throm, ganz sicher ungewollt, einen Beleg dafür, dass die Südwest-CDU noch immer keinen Plan hat, wie sie mit dem Politprofi eigentlich umgehen soll. Und das ist schon seit Jahren so. Der erste persönliche Angriff unter der Gürtellinie im Südwesten stammt noch von Kurzzeit-Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) aus dem Wahlkampf 2011, der meinte, mit Özdemir als eigentlichem grünen Strippenzieher hinter Winfried Kretschmann drohen zu müssen. Das Ergebnis ist bekannt und Mappus am Wahlabend Geschichte.
Als damaliger Vize beim Parteinachwuchs sorgt Manuel Hagel, heute CDU-Landes- und Fraktionschef, mit dafür, dass in den letzten Wahlkampftagen 2016 zwei Pritschenwagen durchs Land geschickt werden mit Plakaten und dem Spruch „Kretschmann wählen bedeutet Özdemir bekommen. Lassen Sie sich nicht täuschen“. Die Südwest-CDU stürzt um zwölf Punkten auf 27 Prozent ab, die Grünen erobern Platz eins.
Ob und was schwarze Strateg:innen aus solchen Erfahrungen lernen wollen, liegt im Dunkeln. Die einen keilen nach Kräften weiter, etwa Nina Warken, CDU-Generalsekretärin im Südwesten: „Unser Land ist zu schade als Trostpreis für Cem Özdemir.“ Ihr Chef Hagel gibt dagegen eine Linie vor, die zumindest in einer heißen Wahlkampfphase kaum durchzuhaltenden sein wird, eine Art Fairness-Abkommen. „Ich würde Cem Özdemir nie angreifen“, sagt er jedenfalls im SWR-Sommerinterview. Und er lässt einen Blick auf das weitere Vorgehen zu. Denn über den eigenen Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2026 – seine Partei geht geschlossen davon aus, dass Hagel selbst zugreift – werde „vermutlich“ erst im Frühjahr 2025 entschieden.
Vermutlich kann es dabei aber nicht bleiben. Kaum vorstellbar, dass der Landesverband, der nach 15 Jahren Kretschmann das drittgrößte Bundesland zurückerobern will, Özdemir wirklich so lange das Feld überlässt. Zumal er es schon jetzt bestellt.
Rede unter Polizeischutz
Zum Beispiel im Hohenlohischen, auf der „Muswiese“, dem Traditionsjahrmarkt in Rot am See. Rund 2.000 Bäuer:innen füllen auf Einladung von „Bioland“ das große Festzelt. Die Stimmung vor Özdemirs Auftritt ist entspannt, aber keineswegs übertrieben zugewandt. Auch hier probiert sich der Spitzenkandidat in spe aus, spricht über die vielen Weltmarktführer in der Region, über Donald Trump, den Wert der Demokratie und den Bauernkrieg vor fünfhundert Jahren.
Seine rhetorischen Fähigkeiten hat der Mehrsprachler (Deutsch, Türkisch, Englisch, Schwäbisch) zigfach bewiesen. Vor sechs Jahren, in der Zeit, in der er im Netz mit rechtsradikalen Morddrohungen („Wir sind am planen, wann wir Sie hinrichten“) konfrontiert war, hielt er unter Polizeischutz in Marbach die alljährliche Schiller-Rede, reserviert für herausragende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Schon in den ersten Sekunden hatte er das Publikum in seinen Bann gezogen: „Ich stehe heute Abend nicht als Einzelperson vor Ihnen, sondern als einer von vielen Menschen in diesem Land, bei deren Geburt diese Einladung ungefähr genauso denkbar war wie ein Flug zum Mond.“ Am Ende war er selber bewegt und unter den Zuhörer:innen gab‘s Tränen.
Auf der Muswiese hat Özdemir die buntgemischte Besucherschar schnell so weit, dass sie ihm aufmerksam lauscht und immer öfter applaudiert. Zum Beispiel, wenn er „als gelernter Erzieher“ davon spricht, dass gutes, regionales Essen in Kitas und Schulen die Grundlage für den Konsum von morgen sei. Am Ende braucht er fast eine halbe Stunde für den Weg aus dem Zelt – viele wollen Kontakt und Selfies.
Shakespeare auf Schwäbisch
Vielleicht ist Özdemirs größtes Pfund, dass sein Weg so lang, verschlungen und beschwerlich war – und lehrreich, weil er von Anfang Ablehnung und Geringschätzung auszuhalten und zu verdauen hatte. Als er in der Grundschule erklärte, aufs Gymnasium wechseln zu wollen, „lag beinah die ganze Klasse flach vor Lachen“, wie er sich erinnert. Über die Mittlere Reife und die Fachoberschule schaffte er es dann doch auf die Evangelische Hochschule Ludwigsburg – bis hin zum Diplom des Sozialpädagogen.
Begleitet ist Özdemirs politische Karriere seit Anbeginn davon, das erste Gastarbeiterkind in der jeweiligen Rolle zu sein. Die Aufmerksamkeit ist häufig übergroß, der Ehrgeiz nicht viel kleiner. Mit 32 legt er eine Biografie vor („Ich bin Inländer“). Und unternimmt manch Merkwürdiges, um den Bekanntheitsgrad zu steigern. Wer sonst kann schon von sich sagen, Shakespeares „Romeo und Julia“ in Schwäbisch auf eine CD gebannt zu haben?
Den schärfsten Knick erfährt der Weg nach oben, nachdem publik wird, dass er eben jenen Privatkredit, 80.000 Mark vom PR-Berater Moritz Hunzinger, angenommen hatte. Er tritt 2002 sein Bundestagsmandat deshalb nicht an, nimmt eine Auszeit in den USA, wechselt ins Europaparlament und muss erleben, wie ihm der eigene Landesverband 2009 einen sicheren Listenplatz und die Rückkehr in den Bundestag erst einmal verwehrt. Mit Unterstützung vieler Realo-Promis aus der ganzen Republik hat er da schon die Hand nach dem Bundesvorsitz ausgestreckt, den er schlussendlich ohne Mandat übernimmt. 2013 der Wiedereinzug, 2017 erreicht er fast 30 Prozent in seinem Stuttgarter Wahlkreis I – als Spitzenkandidat auf Bundesebene übrigens –, 2021 gewinnt er das Direktmandat mit 40 Prozent der Erststimmen.
Ob das Planspiel aufgeht und ein Grüner als Nachmieter in die Villa Reitzenstein, Baden-Württembergs Regierungssitz, einzieht, ist höchst ungewiss. Mit nur noch 18 Prozent liegt die Partei im Land derzeit demoskopisch satte 14 Punkte hinter der CDU. Das bundesweite Stimmungstief macht vor Baden-Württemberg nicht halt, was allerdings hiesige Parteilinke zähmt, weil die nicht mit programmatischen Zwischenrufen als Spielverderber:innen gebrandmarkt sein wollen.
Vieles wird ohnehin weniger von Positionen und mehr von der persönlichen Strahlkraft der Spitzenkandidaten abhängen. In seiner Heimatstadt zumindest ist Özdemirs Ansehen gegenwärtig hoch: Am 31. Oktober findet, gegen den Widerstand Einzelner in der örtlichen CDU, die Verleihung der Ehrenbürgerwürde statt. Und wieder ist er der Erste mit türkischen Wurzeln, dem Bad Urach diese hohe Auszeichnung zuteilwerden lässt.
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